Full text: Der neue Kurs.

IX. Die große innere Krisis. 
Die heitere Stimmung, die Graf Caprivi am Tage seiner Ent— 
lassung zur Schau trug, konnte nicht darüber täuschen, wie bitter 
er es empfinden mußte, daß in der Arbeiter= und Sozialisten= 
frage die Politik seines Nachfolgers wieder an demselben Ende 
beginnen sollte, wo sie sein Vorgänger Fürst Bismarck verlassen 
hatte. Und doch hatte der Widerstand des zweiten Kanzlers gegen 
neue Ausnahmegesetze wider die sozialistischen Agitationen eine fort- 
wirkende Kraft. 
Caprivis Behandlung der Umsturzgefahr wird in drei nüch- 
ternen Sätzen aus seinen Reden gekennzeichnet. Der eine lautet: 
„Die Regierung kann niederhalten, niederschlagen, damit ist die 
Sache aber nicht gemacht, die Schäden, vor denen wir stehen, 
müssen von innen heraus geheilt werden.“ Der zweite: „Wir 
müssen uns nicht angewöhnen, diesen Arbeiterstand immer mit 
einem pessimistischen Blick anzusehen, wir dürfen die Hoffnung 
nicht aufgeben, auch diese Leute wiederzugewinnen.“ Der drute 
endlich erklärt die sozialdemokratische Frage als die Frage, die für 
das Ende des Jahrhunderts die herrschende sein werde. Der Aus- 
druck „Frage“ war zu schwach. In Wahrheit war das erste Jahr- 
zehnt nach Bismarcks Scheiden aus seinen Amtern die Zeit der 
schwersten inneren Krisis für das Reich. 1 
Die sozialdemokratische Bewegung schwoll zu mächtigem 
Umfang an. In ihr herrschte, Richtung und Ziel bestimmend, der 
kommunistische und internationale Gedanke. Auf dem Erfurter 
Parteitage (1891) war ein neues Programm aufsgestellt worden, 
das dem alten Streit zwischen den beiden durch die Namen Lassalle 
und Marx gekennzeichneten Hauptrichtungen ein Ende machte. Der 
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