102 Wilhelm Kahl, Staat und Kirche.
und gewerblichen Leben; keinen besonderen Strafschutz; keine organische Beteiligung der Kirchen
an Aufgaben oder Institutionen der Staatspflege, wie Heereswesen, Schulwesen aller Ordnungen,
Strafvollzug. Für solche Einbusse an öffentlichem Recht gewinnen andererseits die Religions-
gesellschaften den Wegfall der Kirchenhoheit des Staats nach Seiten des Reformationsrechts und
des Oberaufsichtsrechts. Ein Reformationsrecht braucht es nicht mehr zu geben, weil jede staats-
rechtliche Differenzierung der Religionsgesellschaften in \Vegfall gekommen ist und alle in die
Kategorie der Vereine oder Anstalten gehören. Das Oberaufsichtsrecht wird nach seiner gesetz-
geberischen wie nach seiner administrativen Seite entfallen. Eine spezifische Staatskirchengesetz-
gebung hat kein Betätigungsgebiet mehr, weil es gemischte, d. h. Angelegenheiten mit konkurrieren-
den Anteilen von Staats- und Kirchengewalt nicht mehr gibt; eine Sache ist entweder rein welt-
licher oder rein kirchlicher Art, niemals Gegenstand geteilter Kompetenz. Es kann folgerichtig
auch kein administratives Jus inspiciendi cavendi auf den Grenzgebieten des kirchlichen Amter-
wesens, der Straf- und Disziplinargewalt der Kirchen und des kirchlichen Vermögensrechts bestehen.
Die Freikirche hat völlige Selbständigkeit der inneren Verwaltung in Anspruch zu nehmen; ihr
Kirchenrecht existiert auch ohne staatliche Anerkennung als autonomes Recht. So tritt alles in
allem unter dem Trennungssystem an Stelleder Kirchenhoheiteine Vereins-
und Kultuspolizei. Hier offenbart sich die notwendige und bleibende Ver-
bindung mit dem Staat. Nach Vereinsrecht bestimmen sich Voraussetzungen.und Mass der
Rechtsfähigkeit: juristische Persönlichkeit, Erwerbsfähigkeit, polizeiliche Überwachung, Schranken
der Kultusübung in der Öffentlichkeit. Dies die wesentlichen Züge einer folgerichtig durch-
geführten Trennung von Staat und Kirche.
Vergleicht man diesen Rechtsbegriff mit dem Bilde der geschichtlichen Realitäten, so ist
das Resultat, dass eigentliche Trennung in keinem einzigen christlichen Kulturstaate der Welt be-
steht und dass, soweit relative Trennung durchgeführt ist, die Bedingungen ihrer Art- und Mass-
bestimmung nirgends allgemeiner Natur oder Gültigkeit gewesen, sondern allein aus der Eigenart
konkreter Staats- und Kirchenwesen zu erklären sind. Überall ist Stellung und Lösung des Pro-
blems im engsten und strengsten Sinne geschichtlich bedingt. So ergibt der universal-
geschichtliche Tatbestand eine Mannigfaltigkeit der Rechtserscheinungen, welche jedem einheit-
lichen Typ widerstrebt. Italien, Holland und Irland werden an und für sich irrtümlich
zu den Trennungsstaaten gezählt. Überall sind hier, wie schliesslich in allen Staaten des Deutschen
Reiches auch, nur vereinzelte Folgerungen des Trennungsgedankens gezogen. Rein konfessionell
bedingt sind die Trennungssysteme in den Staaten Mittel-undSüdamerikas,inMexiko,
Brasilien, Ecuador, Kuba; bald ist sie Stütze für die Freiheit der katholischen Kirche,
bald Schutz für Staat und Volk gegen die katholische Kirchenhierarchie. Umgekehrt hat sie prak-
tische Bedeutung überwiegend für den Protestantismus inGenf und Basel. Auch die Staats-
form ist unter den Entwickelungsbedingungen des Systems hervorragend beteiligt. Als einzige
Monarchie Belgien. Gerade Belgien aber versagt vollständig für jeden vorbildlichen V.ergleich.
Seine Verfassung von 1831 hat zwar die Kirche völlig von der Staatsaufsicht freigegeben, aber alle
Verpflichtungen des Staats gegenüber der Kirche aufrecht erhalten. Nach wie vor besteht das
staatliche Kultusbudget, welches dem Staat die Zahlung aller Gehälter für die Kirchendiener auf-
erlegt. Diese Darstellung einer Trennung von Staat und Kirche hat man zutreffend als „die freie
Kirche im unfreien Staat“ charakterisiert. Ausser Belgien haben nur Republiken, darunter mehrere
eben aus Anlass des Überganges zur republikanischen Staatsform, die Trennung eingeführt. Der-
selbe Vorgang scheint sich jetzt in Portugalzu wiederholen. Die beiden an die Spitze gestellten
Erfahrungstatsachen, die schlechthin historische Bedingtheit des Systems auf der einen, die durch-
weg fehlende Konsequenz in seiner Durchführung auf der anderen Seite, treten charakteristisch ins-
besondere auch in denjenigen beiden Staaten auf, welche als die Musterbeispiele für die Klassizität
des Systems vorgeführt zu werden pflegen, in Nordamerika und Frankreich. Die Unionsverfassung
Nordamerikas von 1787 spricht nirgends von einer Trennung. Die Zusatzakte von 1791 ent-
hält nur die beiden kurzen Verbotsnormen: „Keinerlei Religionsbekenntnis darf als Qualifikation
zur Erlangung eines Staatsamts gefordert werden‘ und „der Kongress darf durch kein Gesetz eine
Religionsgesellschaft etablieren oder die freie Religionsausübung behindern.“ Alles übrige ist