Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

118 Franz Oppenheimer, Staat und Gesellschaft. 
ebenso wichtige zweite Aufgabe der Oberklasse zu dem Grenzschutz nach aussen der Rechts- 
schutz nach innen, und zwar ebenso gegen Aufstandsgelüste der Unterklasse, wie gegen allzu 
starke Ausbeutungsgelüste einzelner Mitglieder der Oberklasse, die als unwirtschaftlicher Raubbau 
an dem Objekt der Staatswirtschaft, der ‚„Prästationsfähigkeit‘‘ der Unterklasse, im Interesse des 
dauernden Tributbezuges nicht geduldet werden dürfen. 
Diese beiden Aufgaben muss jeder Staat sofort übernehmen; sie bilden geradeso die Charakte- 
ristika seiner Funktion, wie das Klassenverhältniss das Charakteristikum seines Aufbaues 
ist. Und deswegen ist die früher fast allein herrschende Meinung vom Wesen des Staates wohl ver- 
ständlich, die in ihm nichts anderes salı als den Organisator des Friedens und der Rechtsordnung, 
ein Institut, bestimmt, dem „Kampf aller gegen alle‘ ein Ende zu machen. Das ist denn auch in der 
Tat seine Aufgabe; nur geschieht es nicht, wie man bisher annahm, im gleichmässigen Interesse 
sämtlicher Staatsbürger, sondern grundsätzlich nur im Interesse der Oberklasse. 
Dass dabei auch die Unterklasse sekundär sehr bedeutende Vorteile davon hat, wenn man einmal die 
Setzung des Staates als einer Ausbeutungsorganisation als gegeben ansieht, soll und kann garnicht 
bestritten werden. Selbstverständlich pflegt jeder Eigentümer sein Eigentum im Interesse seines 
eigenen dauernden Vorteils. 
B. Die Wirtschaftsgesellschaft als das entfaltete ökonomische Mittel. 
In diesem vom Staate mit seinem Gewalteigentum und seinem Recht gespannten Rahmen 
hat sich nun das ökonomische Mittel nach seinen eigenen Gesetzen entfaltet. Diesen Teil des mensch- 
lichen Gemeinlebens in seiner Entfaltung schlage ich vor, als die „‚Gesellschaft‘ schlechthin oder die 
Wirtschaftsgesellschaft zu bezeichnen. Sie ist der Inbegriff aller derjenigen Beziehungen zwischen den 
Menschen, die auf dem äquivalenten Austausch eigener Dienste und Arbeitserzeugnisse gegen fremde 
beruhen. Wir können in der historischen Wirklichkeit keine völlig reine Wirtschaftsgesellschaft be- 
obachten. Immerhir bildet die Volkswirtschaft des hohen Mittelalters, namentlich im Deutschland 
des XI. bis XV. Jahrhunderts inkl., eine sehr starke Annäherung daran (vgl. mein „Grossgrundeigen- 
tum und soziale Frage“, Berlin 1898. Zweiter historischer Teil); auch der Mormonenstaat Utah auf 
seiner Entwicklungshöhe vor der Annektion und heute Neuseeland lassen die wichtigsten Züge der 
„reinen“ Ökonomie erkennen. Charakteristisch für die reine Ökonomie ist das völlige Fehlen des 
Gewalteigentums. Es existiert weder das rechtliche Gewalteigentum am Menschen selbst in seiner 
Ausgestaltung als Sklaverei oder Hörigkeit, noch die Sperrung des Grund und Bodens gegen die freie 
B 'siedelung durch Siedlungsbedürftige aus der Unterklasse. Infolgedessen existieren keine „freien“ 
Arbeiter, Grundrente besteht nur in harmlosem Ausmass als Rest der in der Grossgrundherrschaft 
noch bestehenden alten Eroberungsrechte, und Kapitalprofit kann sich ebensowenig in erheblichem 
Masse bilden, abgesehen von einigem Wucherprofit. In der Sprache der Ökonomik: in der reinen 
konomie können wohl einige für die Gesamtverteilung harmlose Monopolverhältnisse zwischen 
einzelnen Personen bestehen (,‚Personal-Monopolverhältnisse‘‘), aber keine zwischen Klassen (keine 
„Klassen-Monopolverhältnisse‘), weil keine ökonomischen Klassen existieren können, wo der Grund 
und Boden jedermann frei zugänglich ist. 
Die Wirtschaftsgesellschaft entfaltet sich als das in jedem Augenblicke kleinste Mittel zur 
möglichst ausgiebigen Beschaffung und möglichst erfolgreichen Verwaltung der bedurften Wertdinge 
für die einzelnen ihr eingegliederten Personalwirtschaften bei möglichst geringem Arbeitsaufwande. 
Sie ist das entfaltete ökonomische Mittel in seinen beiden Auswirkungen als Arbeit und Tausch: die 
einzelnen Personalwirte ar beitenin Kooperation, d. h. Arbeitsteilung und- vereinigung, und ver- 
sorgen sich mit den bedurften Wertdingen durch den Tausch. Den Anfang der Entwicklung stellt 
die undifferenzierte, noch nicht um einen Markt zentrierte Wirtschaftsgesellschaft mit sehr schwacher 
Kooperation dar; daraus entwickelt sich die entfaltete Wirtschaftsgesellschaft, die sich in immer 
grösserer räumlicher Erstreckung (Extensität) und immer höher gestaffelter Kooperation (Inten- 
sität) um ihren Markt zentriert. Das Ergebnis ist ein ständiges Wachstum der Arbeitsergiebigkeit 
(„„Produktivität‘‘) jedes einzelnen und daher eine immer bessere Versorgung aller einzelnen mit den 
bedurften Wertdingen: das „Güteverhältnis‘“ zwischen Arbeit und Erfolg, Rohenergie und Nutz- 
energie steigt mit dem Wachstum der Gesellschaft, aber stärker als proportional diesem Wachstum.
	        
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