Wilhein. van Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen. 133
Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, an dieser Stelle eine, wenn auch noch so gedrängte
geschichtliche Übersicht über die ständig wechselnden, bald sich berührenden, bald sich
durchschneidenden, bald gänzlich von einander abweichenden juristischen, politischen,
ethischen und sonstigen Einteilungsmethoden zu geben.?) Wir müssen uns damit begnügen, an der
Hand einer ganz kurzen Betrachtung der ältesten, uns ihrer Organisation nach bekannten
Staatswesen die ursprünglichsten Formen der staatlichen Herrschaft nachzuweisen und sodann
mit wenigen Sätzen den Weg festzustellen, der uns zu der von uns als richtig erkannten Unter-
scheidungsmethode führt.
II. Die älteste bisher bekannte Staatsform ist die der Einherrschaft. Das Volk
der Ägypter, das wir durch fünf Jahrtausende hindurch verfolgen können, zeigt uns bei allen
Umwälzungen, die es geit seinem Eintritt in die Geschichte erfahren hat, stets das gleiche Bild
der monarchischen Verfassung. War den alten Aegyptern auch die Idee des Staates, wie sie sich
später auf dem Boden Griechenlands und Roms für alle Zukunft vorbildlich entwickeln sollte,
noch fremd, so besassen sie doch schon eine bis ins einzelne durchgebildete staatliche Organisation
mit einem unumschränkt herrschenden König an der Spitze.) Der König ist der Halbgott, der
hoch über allen anderen Lebenden thront; er ist der Eigentümer des ganzen Landes und sämtlicher
Untertanen, ihm werden die Steuern gezahlt, zu seinem Ruhme werden die Kriege geführt, ihm
zu Ehren werden die grossen Bauten unternommen.) Freilich war seine Macht tatsächlich nicht
immer so unbeschränkt wie in der Theorie; das Gewicht der Beamtenhierarchie, der Heerführer und
der Priester und nicht zuletzt der wachsende Einfluss der aus ursprünglichen Beamten des Königs
zu immer grösserer Selbständigkeit emporsteigenden Gaufürsten (Nomarchen) schwächten die
Machtvollkommenheit des Königs in sehr erheblichem Masse.®)
Auch in Griechenland ist das Königtum schon sehr frühzeitig verbreitet, jedoch zeigt
es hier einen durchaus anderen Charakter als im Orient. Im Gegensatz zu den asiatischen
Königen mit ihrer autokratischen Machtfülle ist der König der griechischen Staaten ein Beamter
mit bestimmt umschriebenen, bald militärischen, bald sakralen Amtspflichten. Nicht immer
ist er Monarch und nicht immer ist sein Amt erblich: Bald ist es ein Einzelner, bald sind es zwei
oder auch mehrere, denen das Königsamt zusteht; bald ist der König auf Lebenszeit, bald nur auf
bestimmte Zeit bestellt; bald muss er einem bestimmten Geschlechte angehören, bald kann er aus
dem Volke schlechthin hervorgehen. Niemals hat er die Eigenschaft eines patriarchalischen Sou-
veräns. Die Souveränität wohnt beim Volke, bei der Gesamtheit der vollberechtigten Bürger.?)
Auf welche Weise sich in den griechischen Staaten der Uebergang vom Königtum zu
anderen Herrschaftsformen vollzog, lässt sich in Wirklichkeit nicht so genau feststellen, als
man nach der zwar auf einem reichen Beobachtungsmateriale beruhenden, aber gleichwohl
nicht konkret zu nehmenden Darstellung des Platon und des Aristoteles glauben möchte.
Auch für Athen ist die oft behauptete, „schön geradlinige‘“‘ Entwicklung nicht nachweisbar,
wonach es von dem patriarchalischen Königtum zur Aristokratie, von ihr zur Tyrannis und
von dieser zur Demokratie ging. Die staatliche und gesellschaftliche Verfassung Athens
ist erst für die Zeit nach dem Sturze der Peisistratiden historisch mit einiger Zuverlässigkeit
nachweisbar; „wie es ,.. in den übrigen griechischen Staaten aussah, davon haben wir nur
hie und da einen Schimmer.‘“) Seit jener Zeit bis auf Augustus haben sich in der athe-
nischen Verfassung trotz mancher Unterbrechungen und Aenderungen nachweislich die
demokratischen Prinzipien behauptet — die gleichen Prinzipien, die teils in unmittelbarer
2) S. die exomplifikative Aufzählung und die Literaturnachweise bei Jellinek, Allgemeine Staatslehre,
2. A., 1905, S. 646; 3. A., S. 262.
s.81f 4) Vgl. hierher u. zum Folgenden Erman, Aegypten und aegyptisches Leben im Altertum (1896)
. Bi ff. .
5) Erman, $. 84.
°%) Erman, $. 134.
”) Vgl.von Wilamowitz-Moellendorff, Staat und Gesellschaft der Griechen, bes. S. 53 ff.,
(in „„Die Kultur der Gegenwart“, Teil II, Abt. IV, 1; 1910).
%von Wilamowitz, S. 30f.