146 Wilhelm var Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen.
über den vom Parlamente beschlossenen Gesetzen seit fast zweihundert Jahren niemals Ge-
brauch gemacht, vielmehr stets die zum Inkrafttreten erforderliche Sanktion erteilt hat; ob-
gleich es in Wahrheit das Parlament ist, welches die Besetzung des Kabinetts bestimmt,
und obgleich es richtig ist, dass in Wirklichkeit nicht der König, sondern das Kabinett die
Beamtenernennung und viele andere königlichen Prärogative in der Hand hat,’) so kann
doch, solange der König überall der Ausgangspunkt aller staatlichen Funktionen bleibt, in
dem parlamentarischen Regierungssystem keineswegs das Ende der monarchischen Herrschafts-
form erblickt werden.”)
Ähnlich wie England tragen noch eine Reihe anderer europäischer Staaten den
Charakter parlamentarischer Monarchien, so namentlich Belgien, Griechenland, Italien und
Spanien.”) Im einzelnen zeigen die Verfassungen dieser Staaten natürlich grosse Verschieden-
heiten. Sie lehren uns, dass unter dem Zeichen der monarchischen Herrschaftsform eine
unendliche Mannigfaltigkeit der Unterformen besteht, und dass selbst die verfassungsmässige
Anerkennung der Volkssouveränität, wie sie z. B. in Belgien erfolgt ist,”*) sich noch mit dem
Wesen der Monarchie vereinbaren lässt.
Dass in manchen Fällen der Politiker einen Staat unter einer anderen Kategorie ein-
stellen wird als der Jurist, wird sich bei der häufig bestehenden Divergenz der konkreten
Machtverhältnisse und der verfassungsrechtlichen Lage der Dinge allerdings niemals ver-
meiden lassen. —
B) Die Mehrherrschaft.
1. Das Wesen der Mehrherrschaft.
Mehrherrschaft, Pleonarchie oder Pleonokratie ist diejenige Herrschaftsform, bei welcher
die Staatsgewalt nicht einer einzelnen, sondern einer Mehrzahl von physischen Personen
zusteht. Wie gross diese Zahl ist, ob sie zwei oder drei Individuen, ein halbes Dutzend oder
mehrere Dutzende von Personen oder die Gesamtheit aller Staatsbürger umfasst, ist dabei
begrifflich gleichgültig. Gleichgültig ist auch, auf welche Weise diese Personen zur Herrschaft
berufen werden, ob sie die Herrschaft mittelbar oder unmittelbar, durch einen oder durch mehrere
Vertreter ausüben, ob sie bestimmten Bevölkerungskreisen angehören müssen, ob sie eine
bestimmte Qualifikation nachzuweisen haben oder ob dies nicht der Fall ist. Wesentlich ist
dagegen, dass die Bildung des höchsten staatlichen Willens in der Mehrherrschaft — anders
wie in der Einherrschaft — niemals durch einen bloss natürlichen psychologischen Vorgang,
sondern stets durch einen künstlichen juristischen Prozess, nämlich durch das verfassungs-
mässige Zusammenwirken verschiedener Einzelwillen, zustande kommt.®)
2. Arten der Mehrherrschaft.
Jenach der Zahl, Stellung und Beschaffenheit der höchsten Träger der Staatsgewalt und ihrer
berufenen Vertreter unterscheiden wir bei der Mehrherrschaft eine Reihe von Unterformen,
von welchen hier folgende hervorgehoben werden:
a) Die Arlstokratle odor „aristokratischo Republik“.2ı)
Die aristokratische Herrschaftsform besteht darin, dass die Staatsgewalt nicht einem
Einzelnen und nicht der Volksgesamtheit, sondern einer grösseren oder kleineren Zahl
”) S., Jellinek, S. 664 (681).
”) Bezüglich der rechtlichen und tatsächlichen Gestaltung des englischen Parlamentorismus s. Hat-
schek, Engl. Staatsrecht, I. B. und die dort angegebene Literatur.
2) S., Jellinek, S. 688 (7U5). :
0) Vgl. Smend, Die Preussische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, 1904.
0) Vgl. hierzu Jellinek, S. 694 (710 ff.).
2) Vgl. hierüber im allg. u. 0. Sohvarcoz, Elemente der Politik, S. 80ff., Bluntschli i. s. Staats-
wörterbuch B. ]. (1867), S. 332ff., v. Rotteok i. s. Staate-Lexikon, B. I (1834), S. 676 ff.