Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Wilhelm van Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen. 149 
  
da nur für bestimmte Arten von Staatsakten. Dass sich sämtliche staatliche Verwaltungs- 
akte auf eine vorhergehende Volksabstimmung stützen, ist undenkbar und war auch in den 
griechischen Städtestaaten des Altertums, die regelmässig als geschichtliche Beispiele der 
unmittelbaren Demokratie angeführt werden, ein Ding der Unmöglichkeit. Wo die unmittel- 
bare Demokratie heute überhaupt noch vorkommt, beschränkt sich die unmittelbare Aus- 
übung der staatlichen Herrschaftsgewalt durch das Volk auf das Gebiet der Gesetzgebung. 
Zur Ausübung der übrigen staatlichen Funktionen werden vom Volke besondere repräsen- 
tative Organe bestellt. In diesem Sinne besteht die unmittelbare Demokratie in einigen 
schweizerischen Kantonen und Halbkantonen”) und neuerdings in einer Anzahl von Glied- 
staaten der nordamerikanischen Union.*) 
ß) Die mittelbare oder repräsentative Demokratie.®) 
Das Wesen der mittelbaren oder repräsentativen Demokratie besteht darin, dass die 
der Gesamtheit des Volkes zustehende Staatsgewalt nicht unmittelbar vom Gesamtvolke 
selbst, sondern von bestimmten Organen des Gesamtvolkes ausgeübt wird. Dabei findet, 
der Idee der Gewaltenteilung entsprechend, in der Regel eine Scheidung in gesetzgebende 
und vollziehende Gewalt statt. Die erstere wird meistens einer von der Gesamtheit der 
Staatsbürger gewählten Volksvertretung, die letztere einer einzelnen Person (dem „Präsi- 
denten“), seltener einem Collegium anvertraut. Die Volksvertretung scheidet sich häufig, 
ähnlich wie in der Monarchie, in zwei Häuser von verschiedenartiger Zusammensetzung, 
deren übereinstimmende Beschlussfassung für bestimmte Fälle als staatliche Willenserklärung 
oder als Voraussetzung einer solchen Erklärung gilt. Das Organ der Exekutive hat meistens 
auch eine gewisse Einwirkung auf die Gesetzgebung. Im einzelnen können die genannten 
Organe bald mehr, bald weniger Befugnisse haben ; begrifflich notwendig ist nur, dass sie 
ihre Zuständigkeit nicht aus sich selbst heraus, sondern zufolge Übertragung von seiten 
des Volkes besitzen. Auch die innere und äussere Verfassung jener Organe ist begrifflich 
insoweit gleichgültig, als sie das Wesen der repräsentativen Demokratie unberührt lässt. 
Innerhalb des Gesamtrahmens der repräsentativen Demokratie bestehen allerdings ganz er- 
hebliche Verschiedenheiten.. Die feineren Unterschiede der zahlreichen Unterarten dieser 
Herrschaftsform lassen sich in der Tat nur dadurch feststellen, dass man der Forderung 
Richard Schmidt’s entsprechend®) eine Reihe von Staatscharakteren mit jener Herrschafts- 
form näher untersucht. 
Das klarste Bild von den Einrichtungen einer repräsentativen Demokratie gewinnen 
wir durch die Betrachtung der französischen Republik, die als Einheitsstaat eine ver- 
hältnismässig einfache Organisation zeigt.”) 
#) Vgl. Hilty, das Referendum im schweizerischen Staatsreoht. Arch. f. öff. R. II (1887). S. 167 ff., 
Seydel, Abhdlg.. S. 28f. 
%) Nach einem beachtenswerten Bericht von George Judson King (Toledo, Ohio) (Frankfurter 
Zeitung No. 106 vom 6. April 1911) besteht die direkte Gesetzgebung in folgenden Staaten: Süddakota (1898), 
Oregon (1902), Montana (1906), Oklahoma (1907), Missouri und Maine (1908), Arkansas und Colorado (1910), 
Illinois (1911). In mehreren anderen Staaten ist die Einführung geplant. Das übliche Verfahren ist folgendes: 
„Jeder beliebige Akt der Staatslegislatur kann auf Antrag von fünf Prozent der Wahlberechtigten suspendiert 
und dem Volke zur Abstimmung unterbreitet werden. Initiativanträge, die eine Annahme oder Ablehnung 
neuer Gesetze herbeiführen wollen, müssen von acht Prozent der Stimmgeber unterzeichnet sein. Alle 
Massnahmen werden bei den allgemeinen Wahlen, bei denen die Wahl von Staatsbeamten erfolgt, zur Ab- 
stimmung gebracht. Die Entscheidung des Volkes konstatiert einen legislativen Akt.“ ayel auch Curti, 
Der Weltgang des Referendums. x., Arch. f. öff. R. XXVIII (1912) S. 1—44, bes. S. 
”) sellinck, A 708 ff. (725 #.), Seydel, Vorträge, S. 21f. (Annalen 1898, Ss 485). 
%) S, oben S. 
) Vol. Kierüber in im einzelnen Loening Edgar, Art. „Staat“, im H.W.H. der Staatswissenschaften, 
2. A. (1901) B. VI., S. 907 ff., Lebon, Das Verfassungarecht der französischen Republik, 1909, S. 14 ff. 
Öffentl. Recht d. Gegenwart B. 1).
	        
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