Philipp Zorn, Politik als Staatskunst. Ihr Begriff und Wesen. 3
lässigen Arbeit von 2 Jahrhunderten zur deutschen Gesamtkraft in der Form des neuen deutschen
Reiches wurde. Mit der Zeit vor 1648 hat diese neue Zeit und die sie beherrschenden Kräfte wenig
Gemeinsames; es waren in staatlicher Beziehung in Wahrheit völlig neue Kräfte, die die neue Zeit
und das neue Reich schufen. Dennoch darf der Zusammenhang mit der alten Zeit nicht verkannt
und nicht gering geschätzt werden: Er liegt in der grossen Kulturgemeinschaft zwischen den ver-
schiedenen Perioden der deutschen Staatsentwicklung, insbesondere in dem Umstande, dass die
Kolonisationen (Askanier in Brandenburg, deutscher Orden), aus denen der Staat des deutschen
Ostens eıwuchs, durch deutsche Kıäfte aus den deutschen Gebieten alter Kultur, insbesondere
des Westens und Südens, durchgeführt wurden; Kreuz, Schwert und Pflug machten die ehedem
slavischen Länder jenseits der Elbe deutsch und schufen seit dem frühen Mittelalter ein neues
Deutschland, das dann nach dem westfälischen Frieden der Träger der deutschen Staatsentwick-
lung geworden ist, freilich nicht in dem vollen territorialen Umfange jener deutschen Kolonisation,
von welcher erhebliche Teile wieder verloren gingen, indes andererseits nichtdeutsche Bestandteile
dieser Staatsentwicklung leider aus Gründen der Staatssicherheit eingefügt werden mussten. Das
Jahr 1866 hat: dann weiterhin ein grosses deutsches Kulturgebiet von der deutschen Staatsentwick-
lung abgetrennt und den politischen Zusammenhang mit diesem Gebiete auf einen internationalen,
allerdings besonders gearteten, Charakter eingeschränkt. Die deutsche Kultureinheit in Sprache,
Wissenschaft, Kunst, Literatur hat lange und in grosser Stärke bereits bestanden, als politisch noch
völlige Zersplitterung in Deutschland herrschte.
4. So sehr aber die Geschichte als Grundlage der Politik festgehalten werden muss, so ist
die Politik selbst im letzten Ende doch keine Wissenschaft, sondern eine durch wissenschaftliche
Lehre bestimmte Kunst: Die Kunst, im öffentlichen Leben das Mögliche auszurichten. Je kleiner
das Staatswesen nach Umfang, Bevölkerungsziffer und Aufgaben, desto einfacher werden sich diese
Dinge gestalten, je grösser das Staatswesen, desto schwieriger wird die Aufgabe; je einfacher die
Staatsform, desto leichter werden die politischen Entschliessungen und Entscheidungen herbeizu-
führen sein, je vielgestaltiger die Organe des Staates, desto mehr Schwierigkeit muss es notwen-
digerweise bieten, zu demjenigen Punkte zu gelangen, der eine bindende Feststellung des Staats-
willens darstellt. In diesem Sinne hat der grösste Meister deutscher Politik in der Neuzeit, Fürst
Bismarck, oft genug hervorgehoben, dass die Politik im konstitutionellen Staate aus Kompromissen
bestehe; nur weltfrende Doktrinäre werden dies leugnen können.
Die Kunst des Möglichen wird bestimmt durch Erwägungen geographischer, wirtschaft-
licher, sozialer Natur. Andere Erfordernisse stellen an den Staat die Gebirssländer als die Tief-
länder, andere die landwirtschaftlichen Gegenden als die Industriebezirke, andere das platte Land
als die Städte, andere wieder die Binnenstädte als die grossen Seehandelsplätze. Ins unendliche
liessen sich diese Verschiedenheiten politischer Anforderungen, die sich aus den tatsächlichen Ver-
schiedenheiten ergeben, weiterführen. Der Staat aber hat die Aufgabe, als Wächter des Gesamt-
interesses diese Verschiedenheiten, die sich oft genug zu den schärfsten Gegensätzen steigern, ab-
zuwägen und auf Grund dieser Erwägungen die Mittellinie zu suchen und in der Gesetzgebung zur
Geltung zu bringen. Als der grosse unpartejische Regulator des gesamten Wirtschaftslebens seines
Volkes muss der Staat seine ganze Kraft in den Dienst des Gedankens stellen: auf dieser Mittellinie
die wirtschaftliche, ja überhaupt die gesamte Gesetzgebung aufzubauen. Selbstverständlich kann
diese Mittellinie keine rein theoretische Konstruktion sein, sondern wird bedingt sein durch Er-
wägungen der tatsächlichen Erfahrungen und insbesondere durch den Wert, den die einzelnen Mo-
mente, die bei der Abwägung in Betracht kommen, für den Gesamtcharakter des Staates und dessen
Stellung in der Gesamtheit der Staatenwelt haben — lauter Erwägungen, die grosse staatsmännische
Kraft auf der Grundlage historischer, volkswirtschaftlicher, völkeriechtlicher Kenntnisse bedingen.
Regeln allgemeiner Natur lassen sich für die Politik als Staatskunst gar nicht aufstellen; in jedem
einzelnen Falle werden die oben gekennzeichneten Erwägungen Platz zu greifen haben urd von der
richtigen Entscheidung werden Wohl und Wehe des Staates in seiner weiteren Entwicklung abhän-
gen. Insbesondere wird es eine besonders wichtige und wohl auch besonders schwierige Aufgabe
einer vorsichtigen und weitblickenden Staatskunst sein, um eines grossen Erfolges willen in kleineren
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