156 Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen.
Volksgenossen mit dem Fürsten annahm, gerichtet auf Übertragung der Staatsgewalt, so ist Althu-
sius der Begründer der Lehre vom Doppelvertrage geworden. Zuerst nämlich schliessen die
Menschen unter sich einen Vertrag über die Staatserrichtung, den Gesellschaftsvertrag. Danach
erst wird durch einen zweiten Vertrag die Herrschaft auf den Fürsten übertragen (Herrschafts-
vertrag). Für die Betrachtung der Herrschaftsformen hat die Doppelvertragslehre die Bedeutung,
dass durch sie zum ersten Male wieder die Demokratie neben der Monarchie auftritt; denn wie das
Hobbes’) mit Recht hervorgehoben hat, kommt durch den ersten Vertrag eine Demokratie
zustande, die sich erst durch den zweiten Vertrag in eine Monarchie verwandelt.
Locke) hat bereits die englische Revolution erlebt. Darum deutet er schon die Möglich-
keit an, dass das Volk nach dem Abschluss des ersten Vertrages keinen weiteren schlösse und es
bei der Demokratie beliesse. Allein das Volk kann seine Macht auch einem Einzelnen übertragen.
So gelangt Locke, der Empiriker nach seiner philosophischen Lehre, der über die bestehende englische
Repräsentativverfassung nicht hinwegsehen konnte, dazu, die Repräsentativmonarchie vermittelst
des Herrschaftsvertrages in folgender Weise zu konstruieren. Die Menschen stehen als Geschöpfe
Gottes in seinem Eigentum (property). Von dem Eigentumsbegriff Lockes wird aber nicht nur
das Gut, sondern auch Leben und Freiheit umfasst. Da Gott die Erhaltung seines Eigentums will,
so folgt hieraus für den Menschen die Pflicht zur Selbsterhaltung, also auch zur Bewahrung seiner
Freiheit. Diese Freiheit darf er daher nie vollständig veräussern, denn dadurch würde er sich selbst
vernichten; der Mensch aber hat nicht die Freiheit, sich selbst zu zerstören.) Somit wird durch
den Herrschaftsvertrag keine absolute Staatsgewalt geschaffen, sondern nur eine beschränkte.
Wenn daher auch an einen Einzelnen oder eine erbliche Versammlung die gesetzgebende Gewalt
übertragen wurde, so kann diese doch nicht unbeschränkt sein, vielmehr ist zu den Gesetzen noch
die Zustimmung des Volkes oder gewählter Vertreter (representatives) erforderlich.
Locke unterscheidet von der gesetzgebenden Gewalt gleich Marsilius von Padua die exe-
kutive. Allein er ist zu scharfer Beobachter der englischen Staatsorganisation, als dass er den
Grundsatz der Gewaltenteilung als strikte Forderung hätte aufstellen können. Er stellt nur fest,
dass legislative und exekutive Gewalt oft getrennt beständen. Aber der Blick auf seinen eigenen
Staat lässt ihn nicht verkennen, dass auch Verbindung der Gewalten möglich sei und es daher vor-
kommen könne, dass der Jnhaber der exekutiven Gewalt zugleich neben einer erblichen Adels-
versammlung und einer gewählten Vertretung des Volkes an der gesetzgebenden Gewalt beteiligt
sein könne. Locke hatte die Verbindung der Monarchie mit dem demokratischen Element der
Volksvertretung anerkannt und damit der absoluten Monarchie die repräsentative Monarchie zur
Seite gestellt.
Die Theorie Lockes von der repräsentativen Monarchie bedeutet eine Kritik des englischen
monarchischen Absolutismus, wie er unter den Stuarts vorübergehend bestanden hatte. Während
aber in England der Absolutismus nie vollständig und dauernd den Ständestaat zu verdrängen
vermochte und darum ein allmählicher Übergang von dieser Staatsform zur repräsentativen statt-
fand, hatte auf dem Kontinent der Absolutismus nahezu überall das Ständetum völlig bei eite
geschoben oder vernichtet. Dieser Umstand macht begreiflich, warum die Theorie hier viel radi-
kaler sich dem Absolutismus entgegenstellte. Ein Beispiel allmählicher Umbildung war hier un-
bekannt. Jetzt blickt man auf das englische Staatsgebilde und glaubte hier noch stärkere Garan-
tien gegen eine absolutistische Willkür des Monarchen zu finden, als sie in Wirklichkeit vorhanden
waren. In dieser Weise stellt sich die Kritik dar, die Montesquieu'‘) an dem Absolutismus durch
Betrachtung der vermeintlichen Gestalt der englischen Verfassung übte. Weder eine Demokratie
ist möglich, in welcher bloss das Volk regiert; es muss vielmehr ein Senat vorhanden sein, welcher
es leitet; noch ist eine Aristokratie gut, wenn nur wenige Geschlechter herrschen; am besten ist noch
eine Aristokratie, welche nahezu alle an der Herrschaft teilnehmen lässt, so dass kein Interesse be-
steht, den verbleibenden, an sich unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung durch Bedrückung nieder-
?) De cive, 1642; Leviathan, 1651; dazu Rehm, Geschichte 241.
®) Two Treatises of Government, 1689.
?) He has not liberty to dretroy himself; ». Rohm, Staatslehre 224.
0) Esprit des lois, 1847.