160 Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen.
a) Der aristotelische Massstab der verhältnismässigen Zufriedenstellung.
Aristoteles teilt die Herrschaftsformen ein in richtige, Monarchie, Aristokratie, Politie,
und entartete, Tyranais, Oligarchie, Demokratie, wobei ihm als Massstab dient, ob die Regierung
im allgemeinen Interesse oder dem alleinigen der Regierenden geführt wird. Dabei geht seine Mei-
nung nicht etwa dahin, dass die richtigen Formen auf jeden Staat, ungeachtet der besonderen Ver-
hältnisse und der Beschaffenheit der Bevölkerung, mit gleich gutem Erfolg angewendet werden
können. Seine Meinung ist vielmehr, dass es immer von den besonderen realen Verhältnissen ab-
hängt, welche von ihnen im einzelnen Falle die für einen Staat zwechmässigste ist*.) Zur Beur-
teilung dieser Angemessenheit gibt Aristoteles als Massstab an, dass immer derjenige Teil der
Bürgerschaft, welcher wünscht, dass die Verfassungbleibe, stärker sein müsse als der, welcher das
Gegenteil wünscht. ) Auch hierbei hält er streng seinen Begriff der Gleichheit als einer propor-
tionalen aufrecht, nur lässt er für jene Feststellung neben der qualitativen Wertung der Bürger
nach Freiheit, Reichtum, Bildung, Adel konkurrierend die quantitative Wertung nach der Kopf-
zahl zu. Diese beiden Verhältnisse müssten gegeneinander abgewogen und is ausgleichende Ver-
bindung gebracht werden. Demgemäss sollte, wo die Zahl der Armen unverhältnismässig im Über-
gewicht sei, Demokratie am Platze sein. Wo die reichen und angesehenen Leute nach ihrer Qualität
in höherem Grade im Übergewicht seien, als sie nach Quantität zurückständen, da sei Boden für
Oligarchie. Wo endlich der Mittelstand an Zahl entweder beide Extreme überrage oder auch nur
eines von beiden, da vermöge sich die Politie dauernd zu behaupten?*.) -
Gerade die empirische Richtung in der Forschung des Aristoteles fand nicht diejenige Weiter-
bildung, die ihr gebührte. Darum konnte es kommen, dass Jahrhunderte lang der von Aristoteles
ewiesene Weg relativer Beurteilung der Herrschaftsformen unbetreten blieb. Erst die gewaltige
bertreibung der Bedeutung des Denkens der jeweilig lebenden Menschen und der Versuch der
praktischen Schöpfung von Staat und Recht frei aus der Vernunft, den man in der französischen
Revolutionsperiode unternommen hatte, führte zu einem Umschwung der Weltanschauung, der
dauernd bis zur Stunde wirkt.
b) Der Massstab der zeitlichen und sozialen Angemessenheit.
Die geistige Strömung, die den Rationalismus ablöste, war die Romantik. Sie richtete die
Blicke zurück auf die Geschichte, auf das gesamte Werden der Völker, und zwar nicht nur auf die
Geschichte der eigenen Nation, sondern auf die gesamte menschliche Geschichte. Aus dieser Welt-
anschauung ging die deutsche historische Rechtsschule hervor, die sowohl das germanische wie
das römische Recht erforschte. Aber sie legte im wesentlichen das Gewicht auf das Privatrecht.
Für das Staatsrecht war Frankreich berufen die Neuordnung der Dinge theoretisch und praktisch
zu vermitteln. Sie wurde bewusst aus jener neuen Weltanschauung heraus geschaffen, der Henri
de Saint-Simon Ausdruck gab. Es sollte-hinfort nicht mehr Aufgabe der Philosophie sein
sich in allgemeine Eigentümlichkeiten über das Sein und die Substanz zu verlieren, in unnütze
Untersuchungen abstrakter Begriffe, in willkürliche Teilungen und endlose Schemata. Sie sollte
nicht eine Wissenschaft von den Phantomen, sondern von den Tatsachen sein; alle von den Spezial-
wissenschaften im Wege der Einzelforschung gewonnenen Ergebnisse sollten durch die Philosophie
systematisch zusammengefasst und zu einer Einheit geführt werden. Damit war das Ideal der
positivistischen Forschungsweise gezeichnet. Aus der Erkenntnis der Vergangenheit sollte der
Massstab für die Beurteilung der Gegenwart und die ihr erspriessliche Behandlung geschöpft wer-
den.) Das war das gerade Gegenteil von der Anschauung des Aufklärungszeitalters, wo die da-
mals lebende Generation aus ihrer eigenen Vernunft heraus unter Missachtung alles geschichtlich Ge-
wordenen die Normen für das Gemeinschaftsleben der Menschen zu schaffen sich vermessen hatte. 27°)
26) v. Arnim 9.
23) Hildenbrand IS 9.
#) Aristoteles, Politik, Ausg. Susemihl VI 12 $ 1—4.
”) Windelband, Geschichte der Philosophie, 1892, 8.418; Muckle, Henri de Saint-Simon, 1908,
39 ff., 170 ff., 201 ff.
#e) Schleiermacher, Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, 1814 (Philos. u. ver-
mischte Sohriften TI, 246): „Da der Staat ein Gebilde (des Menschen selbst ist, so wähnte man von der Be-