Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Paul Eltzbacher, Der Anarchismus. 
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Vorteil im Auge habe. Proudhon, Bakunin und Kropotkin stellen dann die künftige Gesellschaft 
auf die solidere Grundlage des Vertrages und lassen an die Stelle des Staates ein kunstvolles und 
umfangreiches System vertraglicher Gemeinschaften treten. Tolstoj kehrt auch hier zu den An- 
fängen zurück, indem er jeden Vertrag verwirft und als Grundlage der künftigen Gesellschaft nur die 
christliche Gesinnung des Einzelnen zulässt. 
Ein bestimmter Standpunkt gegenüber dem Eigentum gehört an sich nicht zum Anar- 
chismus, indessen hat dieser sich der Bedeutung des Problems doch niemals entzogen, und so hat auch 
hier eine deutliche Entwicklung stattgefunden. Der primitive Anarchismus Godwins und Stirners 
verwirft das Eigentum in jeder Gestalt, an seine Stelle soll eine Güterverteilung treten, die sich 
lediglich darauf gründet, dass jedermann das Wohl der Gesamtheit oder (bei Stirner) den eigenen 
Vorteil im Auge hat. Proudhon lässt dann das Privateigentum oder wenigstens etwas ihm sehr 
Ähnliches ohne Einschränkung zu. Bakunin ist der Meinung, dass in der künftigen Gesellschaft 
Privateigentum nur noch an den Konsumtionsmitteln bestehen werde, während die Produktions- 
mittel unter allen Umständen Gesellschaftseigentum sein würden. Nach Kropotkin endlich ist in 
der künftigen Gesellschaft das Privateigentum gänzlich ausgeschlossen, die Konsumtions- wie die 
Produktionsmittel werden nur noch Gesellschaftseigentum sein. Diese Entwicklung, die von der 
Verwerfung des Eigentums zu dessen Anerkennung und hier vom Individualismus über den Kollek- 
tivismus zum Kommunismus führt, bricht wieder bei Tolstoj ab: gleich den ersten Anarchisten ver- 
wirft er jede Form des Eigentums und gründet die Güterverteilung der künftigen Gesellschaft 
einzig auf die Nächstenliebe jedes Einzelnen. 
Eine ausgesprochene Entwicklung tritt uns endlich auch bei der Frage entgegen, auf welche 
Weise der Übergang vondem gegenwärtigen staatlichen Leben zudem 
neuen Gesellschaftszustande erfolgen soll. Godwin spricht sich ebenso unbestimmt für 
friedliches wie Stirner für gewaltsames Vorgehen aus. Ein deutliches Bild von dem einzuschlagenden 
Wege macht sich erst Proudhon. Er schlägt vor, durch Schaffung vorbildlicher Vereine mit staat- 
lichen Aufgaben die Überflüssigkeit des Staates darzutun und so dessen Auflösung auf gesetz- 
lichem Wege herbeizuführen. Bakunin nimmt an, dass der Umschwung nur durch eine gewaltsame 
Revolution erfolgen könne, und betrachtet es als die Aufgabe der Anarchisten, durch ihre Propa- 
ganda diese Revolution vorzubereiten und zu beschleunigen. Kropotkin arbeitet diesen Gedanken 
aus, indem er als bestes Mittel der Propaganda die Propaganda der Tat empfiehlt. Von friedlichen 
gelangt der Anarchismus so zu immer gewaltsameren Mitteln, nur Tolstoj kehrt auch hier zu den An- 
fängen zurück, indem er jede Gewalt verwirft und nur dort, wo der Staat nach seiner Meinung 
Unchristliches fordert, den passiven Widerstand gebietet. 
6. 
Der Anarchismus der Gegenwart. 
Der Anerchismus der Gegenwart ist nichts Einheitliches. Keine der verschiedenen anar- 
chistischen Lehren, die uns in der Entwicklungsgeschichte des Anarchismus entgegentreten, hat 
genug Überzeugungskraft gehabt, um alle diejenigen an sich zu fesseln, die dem Staate die Daseins- 
berechtigung versagen. 
Anhänger God wins dürfte es allerdings nicht mehr geben. Auch an Stirner schliesst 
sich heute kaum noch jemand an, ausser einigen Literaten, die sich von seinem Stil und seiner Schein- 
konsequenz bestechen lassen. Ein weit grösseres Gefolge, namentlich in Frankreich und Nord- 
Amerika, hat sich die klare und massvolleArtProudhonszu wahren gewusst. AuchBakunin 
hat heute noch seine Anhänger, besonders in Spanien : diese Lehre musste sich schon durch ihre enge 
Verwandtschaft mit dem modernen Sozialismus in gewissem Grade behaupten. Bei weitem die 
meisten Anarchisten sind gegenwärtig Anhänger Kropotkins, der Vorsprung der kühneren, 
weitergehenden Lehre gegenüber einer gemässigten, minder weitgehenden hat sich auch hier geltend 
gemacht: namentlich in den romanischen und slavischen Ländern spielt der kommunistische 
Anarchismus eine grosse Rolle, die sich anschaulich in der Menge der Zeitschriften und Zeitungen 
kundgibt, die seine Anschauungen vertreten. Nicht ganz ohne Jünger ist auch Tols to j, besonders 
Handbuch der Politik. TI. Auflego. Band T. 12
	        
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