Franz W. Jerusalem, Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung. 181
ebensowenig beseitigen wie die Sprache oder die Schrift, denn gleich diesen ist er eine Voraussetzung
unseres gegenwärtigen Daseins.
Deshalb ist auch die Begründung verfehlt, mit welcher der ideologische Anarchismus God-
wins, Stirners, Proudhons und Tolstojs dem Staate die Daseinsberechtigung versagt. Der Staat muss
mit allen seinen Mängeln bestehen bleiben, weil sich nichts Besseres an seine Stelle setzen lässt. —
Der Anarchismus, die Lehre, dass der Staat keine Daseinsberechtigung habe, ist eine kühne
und grossartige Lehre, aber erist eineIrrlehre. Wer seinen Grundgedanken und dessen Ver-
zweigungen, seine bedeutendsten Vertreter und den Kreis seiner Anhänger kennen gelernt hat,
muss ihm mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Vom Standpunkt des Staatsmannes muss man
sein Dasein bedauern. Denn er hat grossherzige und warmfühlende Naturen verleitet, sich gewaltsam
und sinnlos dem Staate entgegenzustellen und einem Wahngebilde andere Menschen und
schliesslich sich selbst zum Opfer zu bringen. Vom Standpunkt des Forschers dagegen muss man an
ihm den Anregungswert schätzen, der kraftvollen Irrtümern innezuwohnen pflegt, welche uns
nötigen, uns über die Gründe des scheinbar Selbstverständlichen klar zu werden. Die Bedeutung
des Anarchismus liegt im letzten Grunde darin, dass er unsere Überzeugung vonder
Notwendigkeit des Staates befestigt und vertieft hat.
14. Abschnitt.
Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung.
Von
Dr. Franz W. Jerusalem,
Privatdozent an der Universität Jena.
Literatur:
Vorbemerkung: Die Literatur über den Gegenstand ist keine reiche. Die Werke, die auf ihn überhaupt ein-
gehen, streifen ihn regelmässig nur, ohne ihn zu erschöpfen. Eine Ausnahme macht nur das unten angeführte Werk
von Jellinek. Zahlreicher und wertvoller sind die Darstellungen der konkreten Verwaltungsorganisation in einzelnen
Staaten mit Rücksicht auf den Gegensatz von Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung. Für England ist
besonders das hervorragende Werk von Josef Redlich zu erwähnen, dessen glänzenden Ausführungen auch
meine Darstellung gefolgt ist. — Anschütz, Richtlinien preussischer Verwaltungsreform, in der Festgabe der Ber-
liner juristischen Fakultät für v. Martitz 1911, S. 469 ff. mit Literaturangaben über die heutigen Reformbestrebungen
in Preussen. — Aucoc; Les controverses sur ja decentralisation administrative, in der Revue Politique et Parlementaire,
i Band, 1895, S. 7 ff., mit reichen Literaturangaben, — Berthölemy, Traite elementaire de droit administratif, 6. Auf-
lage, 1910. — Be yer, Zentralisation und Dezentralisation, irn Staatslexikon, herausgegeben von derGörres-Gesellschaft,
3. Auflage, 1912, BandV, S. 1256ff. — Bornhak, Preussische Staats- u. Rechtsgeschichte, 1903. — Deschanel, Paul,
La Decentralisation, 1893. — G areis, Allgemeines Staatsrecht, in Marquardsens Handbuch des öffentlichen Rechts, Z I,
1883. — Glumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, 1897.— Hatschek, En
buch des öffentlichen Rechts, 2 Bände, 1905 und 1906. — v. Held, Grundzüge des Allgemeinen Staatsrechts, 1868. _
Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte 1910, im Handbuch der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte,
hgg. von v. Below und Meinecke. — Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl ae 1000: = Comte de Lugay,
La Decentralisation, 1895. — Mayer, Otto, Theorie des Französischen Verwaltungsrechts, 1886. — v. Meier, Ernst,
Das Verwaltungsrecht, in der Enzyklopädie der Rechtswissenschaft von v. Holtzesdorff-Kohler, 11, 1904. — Prouss,
Zur preussischen Verwaltungsreform, 1910. — Redlich, Englische Lokalverwaltung, 1901. — v. Sarwey, All-
gemeines Verwaltungsrecht, in Marquardsens Handbuch des öffentlichen Rechts, I, 2, 1884.— v. Stein, Lorenz, Die
Verwaltungslehre, insbesondere Erster Teil, 2. Abt.: Die vollziehende Gewalt, II, "Die Selbstverwaltung und ihr Rechts
system, 2. Auflage, 1869. — Stier- -Somlo, Zur Reform der preussischen Staatsverwaltung. 1
1. Versteht man unter Verwaltung obrigkeitliche Tätigkeit im weitesten Sinne, so lässt sie sich
im einzelnen danach unterscheiden, ob sie von der Zentralgewalt, also derjenigen Instanz innerhalb
des Staates, in der die Einheit der staatlichen Organisation zum unmittelbaren Ausdruck kommt,
ausgeht, oder ob sie von untergeordneten, mehr oder weniger von jener Zentralinstanz abhängigen
Faktoren ausgeübt wird.