Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

196 Franz W. Jerusalem, Zentralisation und Dezentralisntion der Verwaltung. 
  
stehenden Regierungssystems nach der absolutistischen, der aristokratischen oder demokratischen 
Richtung zur Folge haben würde. Dass diese Forderungen regelmässig mit verwaltungstechnischen 
Gesichtspunkten begründet werden, ist dabei nicht unverständlich. 
Aus diesen Ausführungen ergibt sich zugleich auch das Verhältnis der beiden Inhalte des 
Gegensatzes von Zentralisation und Dezentralisation zu einander. Zentralisation und Dezentra- 
lisation als Ausdrucksformen bestimmter Regierungssysteme geben dem einzelnen Staate ein be- 
stimmtes Gepräge, während die verwaltungstechnische Verteilung der Verwaltungsgeschäfte im 
Staate nach den Prinzipien der Zentralisation oder der Dezentralisation ohne Rücksicht auf jenes 
Gepräge bestimmte Zweige der Verwaltung aus Zweckmässigkeitsgründen zentralistisch oder dezen- 
tralistisch, je nach dem Charakter der einzelnen Verwaltungszweige, zu gestalten versucht. Es ist 
deshalb sehr wohl möglich, dass z. B. trotz grundsätzlich durchgeführter Dezentralisation der Ver- 
waltung auf Grund eines bestimmten Regierungssystems gleichzeitig für gewisse Verwaltungszweige 
eine ebenso energische Zentralisation besteht und dass Politiker, die unbedingt für Dezentra- 
lisation der Verwaltung als Regierungsprinzip eintreten, auf der anderen Seite aus verwaltungs- 
technischen Gründen für Zentralisation eines bestimmten Verwaltungszweiges sind. So ist in Eng- 
land, wo die Dezentralisation der Verwaltung Regierungsprinzip ist, die Oberaufsicht über di: 
Lokalverwaltung im Local Government Board derartig zentralisiert, dass sein Geschäftsumfang dem 
der kontinentalen Ministerien des Innern nicht nur gleichkommt, sondern in manchen Dingen sogar 
noch übertrifft. Diese Zentralisation führte sogar, wie ich zeigte, zu immer lauter werdenden Be- 
schwerden über die schwerfällige und langsame Erledigung der Geschäfte, so dass also aus ver- 
waltungstechnischen Gründen das Verlangen nach grösserer Dezentralisation entstand. Das führte 
auf dem Kontinent zu dem Irrtum, dass nun auch die englische Verwaltung in gleicher Weise wie die 
auf dem Kontinent zentralisiert werde, obwohl man in England lediglich von einer verwaltungs- 
technisch schädlichen Zentralisation in einem speziellen Verwaltungszweige bei grundsätzlicher 
Dezentralisation der Verwaltung sprechen kann, während, wie z. B. die obige Darstellung beweist, in 
Frankreich von einer grundsätzlichen Zentralisation der Verwaltung gesprochen werden muss. 
Die Bedeutung des Gegensatzes von Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung 
erschöpft sich aber nicht in einem verwaltungstechnischen Problem einerseits und dem Ausdruck 
zweier einander entgegengesetzter Parteirichtungen anderseits. In ihm ist vielmehr ein weiteres 
Problem enthalten, das aber erst sichtbar wird, wenn einerseits die zweckmässigste Form der Ver- 
teilung der Verwaltungsgeschäfte gefunden ist, anderseits das eine oder andere Parteiprogramm 
endgültig den Sieg errungen hatund nunmehr in beiden Fällen die neue Verteilung durchgeführt werden 
soll. Aus gewissen Ursachen ist nämlich nicht stets eine beliebige Verteilung der Verwaltungsge- 
schäfte an beliebige Faktoren ohne weiteres möglich, auch wenn diese Verteilung aus verwaltungs- 
technischen Gründen zweckmässig erscheint; aus den gleichen Ursachen kann ein politisches Pro- 
gramm nicht immer ohne weiteres durchgeführt werden, auch wenn es als Regierungsprinzip zur 
unbedingten Anerkennung gelangt ist. 
Die neuere Verfassungsgeschichte Frankreichs, soweit sie oben dargestellt wurde, zeigt das 
aufs deutlichste. Zu den politischen Forderungen, denen die grosse Revolution von 1789 Geltung 
verschaffen wollte, gehörte vor allem eine durchgreifende Reform der inneren Verwaltung im Sinne 
einer völligen Dezentralisation. Aufs radikalste wurde, wie wir sahen, diese Forderung in die Wirk- 
lichkeit umgesetzt. Die einzelnen Departements wurden fast völlig von jeder Beeinflussung der 
Zentralgewalt befreit; statt der erwarteten segensreichen Folgen der Reform riss aber grösste Un- 
ordnung ein, die zwar zunächst durch besondere Kommissare der Revolutionsregierung in etwa 
beseitigt wurde, aber auf die Dauer durch solche aussergewöhnliche Massnahmen nicht behoben 
werden konnte. So kam es zu der Reform von 1800, in der man im grossen und ganzen zu den 
System des Ancien Regime, dem System der Zentralisation zurückkehrte. Seitdem wurde zwar 
immer und immer wieder verlangt, dieses System, das nicht nur dem Programm der herrschenden 
politischen Parteien mehr oder weniger widersprach, sondern auch vom verwaltungstechnischen 
Standpunkt aus sich immer wieder als schädlich herausstellte, durch wesentlich grössere Dezentra- 
lisation zu ersetzen. Die Schäden, die durch diese drohten, schienen aber immer noch grösser, 
als die Nachteile der bestehenden Ordnung. Und so blieb, abgesehen von kleineren Reformen, alles 
eim alten.
	        
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