Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

298 Wilhelm von Blume, Autonome Körperschaften. 
  
gestaltet. Das Bewusstsein, dass sie für sich selber sorge, erzeugt in der Bürgerschaft den Wunsch 
nach Freiheit vom Staate. Und die Möglichkeit, den Trägern der Staatsgewalt Hilie zu leisten 
gegen ıhre Feinde, verleiht diesem Wunsch den erforderlichen Nachdruck. So bilden sich Stadt- 
staaten im Staate; sie schliessen Bündnisse, führen Kriege und verhandeln mit dem Staatsober- 
haupte wie, wenn sie unabhängig wären. 
Zwischen die Gemeinden und den Staat schieben sich möglicherweise genossenschaftliche 
oder herrschaftliche Verbände: Kreise, Provinzen, Länder. Auch sie erfüllen Aufgaben des 
Gemeinlebens und beschränken somit auf der einen Seite die kleineren Verbände in ihrem 
Wirkungskreise wie sie auf der anderen Seite dem Staatsleben Grenzen ziehen 
Und nun zeigt sich, wie die verschiedenen Formen der menschlichen Verbände sich wechsel- 
seitig vertreten können. Ein schwacher Staat — eine starke Entwicklung 
der anderen Verbände. Beschränkt sich der Staat auf die Mehrung des Rechts- 
friedens, so nehmen Familie, Genossenschaft, Gemeinde, Provinz die Aufgaben wahr, die nur in 
gesellschaftlichem Zusammenwirken gefördert werden können. Ist der Staat nicht im Stande, ‘den 
Frieden zu erhalten, so übernehmen die anderen Verbände auch diese Aufgabe. Es kommt zu 
einer Dezentralisation des sozialen Lebens, die zur völligen Auflösung des Staates führen kann. 
Indem sie aber etwa den Staat vernichtet, schafft sie neue, unabhängige Gewalten und damit 
neue Staaten — der Kreislauf der Körperschaftsbildung beginnt von neuem. 
Der Polizeistaat des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutet einen Tiefstand .des Lebens der 
nichtstaatlichen Verbände, Der Staat monopolisiert das öffentliche Leben und die öffentl’ che Ge- 
walt; er unterdrückt wie die Freiheit des Einzelnen so auch die der mit ihm konkurrierenden Ver- 
bände. Erstrebt nach „Allmacht“. Doch ist auch dafür gesorgt, dass die Staatsbäume nicht in den 
Himmel wachsen. Denn er muss die Kindererziehung notwendig der Familie überlassen; das Privat- 
eigeutum zu beseitigen hat auch der absolute Staat nicht versucht; wie die Kirche sich neben 
dem Staate behauptet, so behaupten sich in ilım örtliche und persönliche Verbände, deren 
Selbstverwaltung allerdings auf's äusserste beschränkt, wenn nicht beseitigt wird. 
ass die französische Revolution, die die absolute Herrschaft des Königs zerbrach, um die 
absolute Herrschaft des Volkes an deren Stelle zu setzen, der Bildung anderer Verbände neben dem 
Staate nicht günstig war, kann nicht wunder nehmen. Es bildete sich zwar die Vorstellung eines 
den drei Betätigungen der Staatsgewalt ebenbürtigen „pouvoir municipal‘ heraus, deren folge- 
richtige Verwirklichung zur Umformung des Staates in einen aus kommunalen Verbänden zu- 
sammengesetzten Bundesstaat hätte führen müssen. Doch ging die weitere Entwicklung in Frank- 
reich bald wieder nach entgegengesetztem Extiem hin. Die municipale Selbständigkeit passte 
nicht in das System der „einigen und ungeteilten Staatsgewalt‘‘; so wurde denn bald genug das 
Präfekten-System wieder eingeführt. Aber diese Politik führte zur völligen Zentralisation von 
Gesetzgebung und Verwaltung und damit zum Despotismus Napoleon’s wie des Parlaments. 
Wie anders die Entwicklung in Deutschland, zumal in Preussen! Als der Freiherr vom Stein 
mit den Trümmern des Staates Friedrichs des Grossen ein neues Preussen schuf, begann er mit der 
Beseitigung der patrimonialen Gewalt und der Wiederherstellung des Rechts der Selbstverwaltung 
der Städte, das er in entsprechender Ausbildung auf die übrigen lokalen Verbände zu übertragen 
gedachte. Von unten auf gedachte er den Staat zu bauen: im Gemeindebürgertum sollte das 
Staatsbürpertum wurzeln; auf der Gemeinde fussend, sollte der Bau des Staates emporsteigen. 
Der Bau blieb unvollendet; erst die neuere Zeit hat unternommen, ihn weiterzuführen; noch aber 
ist er nicht vollendet. Kein Zweifel, dass es ein kerndeutscher Gedanke ist, der die Freiheit des 
Einzelnen mit der Gemeindefreiheit, beide aber mit dem Staatsgedanken in Einklang setzt. 
Nicht Freiheit vom Staate, sondern Freiheit im Staate und für den Staat ist nunmehr 
die Forderung. In diesem Sinne auch Freiheit für die innerstaatlichen Körperschaften, ins- 
besondere die Gemeinden. So ist die Rechtsform der öffentlichen Körperschaft die Verwirk- 
lichung des Gedankens der Selbständigkeit der Verbände; sie sind selbständig, weil ihre Selb- 
ständigkeit dem Staate dienlich ist. 
Dennoch werden diese Verbände nıcht einfach Staatsbehörden. Was sie von solchen unter- 
scheidet, ist, dass sie nicht vom Staat für Stastszwecke organisiert worden sind, sondern zunächst
	        
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