Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Ferdinand Tönnies, Bürgerliche und politische Freiheit. 245 
  
des Staates zu den Religionsgesellschaften eng zusammen. Nur durch Scheidung zwischen 
Staat und Kirche oder Kirchen kann diese Freiheit sich vollenden, ist daher in den meisten 
Staaten noch in der Entwicklung. Stadien dieser Entwicklung sind durch die Anerkennung 
der Parität mehrerer Konfessionen in einem Staate oder wenigstens Reiche, und durch das 
weitergehende Prinzip der Toleranz gegeben. Das preussische Landrecht proklamierte 
zuerst (II, 11, $ 2): „Jedem Einwohner muss eine vollkommene Glaubens- und Gewissens- 
freiheit zugestanden werden.“ Vorangegangen war schon in Preussen wie in anderen 
Ländern die Praxis, in Oesterreich das Edikt Josephs II. von 1781, das freilich nicht lange 
Geltung behielt. Die französische Revolution wirkte in gleicher Richtung. In England er- 
folgte erst im 19. Jahrhundert die „Emanzipation“ der Katholiken und Dissidenten im Sinne 
der bürgerlichen Gleichstellung. Das Gesetz des Nordd. Bundes vom 3. VII. 1869 ver- 
kündet die Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Religions- 
bekenntnis. Tatsächlich unterliegen aber in mehreren deutschen Einzelstaaten Katholiken 
oder Protestanten und Dissidenten, allgemeiner die Juden, noch vielfachen Beschränkungen 
durch die Praxis der Regierungen. 
Die Bekenntnisfreiheit ist aber nur eine besondere Gestalt der Freiheit, Gedanken und 
Meinungen zu äussern, und diese hat ihren höchsten Ausdruck in der Lehr freiheit oder 
in der Freiheit der Wissenschaft, die grundsätzlich allgemeiner Anerkennung sich 
erfreut. Sie hat als Korrelat die Lern freiheit Erwachsener, die als akademische Freiheit 
besonders im deutschen Hochschulwesen ausgebildet ist. 
Eine grosse öffentliche Bedeutung hat die Aeusserung von Meinungen und Urteilen, 
zumal über politische Dinge, teils unmittelbar in der Rede, teils in der vervielfältigten 
Schrift, und beide haben eine virtuell unbegrenzte Ausbreitung gewonnen durch den Druck 
von Büchern, Reden, Flugschriften, insbesondere durch periodische Druckschriften, unter 
denen die Tageszeitungen eine Weltbedeutung unter dem speziellen Namen der „Presse“ 
oder „Tagespresse“ erlangt haben. Auf sie bezieht sich daher hauptsächlich die Press- 
freiheit, die in den moderneren Gesetzgebungen überall gegen das frühere Institut der 
Zensur durchgesetzt worden ist, so dass den Vergehen, die durch die Presse begangen 
werden können, nur noch strafrechtlich, nicht mehr präventiv, entgegengewirkt wird. Das 
in Preussen durch die oktroyierte Verfassung und das Gesetz vom 12. V. 1851 gewährte 
Mass von Pressfreiheit ist durch die Reichsverfassung und das Gesetz über die Presse vom 
7. V. 1874 erweitert worden. — Die geistigen Freiheiten werden prinzipiell am 
wenigsten angefochten; auch die Kirchen verneinen die Bekenntnisfreiheit praktisch nur 
innerhalb ihrer Gemeinschaften, und hauptsächlich für ihre Geistlichen. Die katholische 
Kirche verlangt für sich selbst nur völlige Kultusfreiheit in den Staaten, wo sie nicht Staats- 
kirche ist. 
4. Die Freiheit sich zu versammeln und Vereine zu bilden ist nur eine Betätigung der 
allgemeinen persönlichen Freiheit, und wird als solche vom Staate geachtet, so lange als 
die Regierungen und Gesetzgebungen keine gesellschaftliche und politische Gefahr darin zu 
erkennen glauben. Eine gesellschaftliche Gefahr wurde lange und wird auch noch jetzt 
vielfach in den Koalitionen der Lohnarbeiter erblickt, zumal unter dem Gesichtspunkte, dass 
sie in einem Verhältnisse der Abhängigkeit von ihren Meistern und „Brotherren“ stehen. 
Nachdem aber die modernen Betriebsformen den Zustand des Lohnarbeiters in der Regel 
zu einem lebenslänglichen gemacht haben, ist ihnen in Konsequenz des Prinzips der wirt- 
schaftlichen Freiheit die Koalitionsfreiheit prinzipiell zugestanden worden, wenn 
sie auch polizeilich und strafrechtlich beschnitten zu werden pflegt. In Deutschland stand 
ihnen das buntscheckige Vereins- und Versammlungsrecht, wie es sich in Preussen auf Grund 
einer „Verordnung“ (11. III. 1850), in mehreren Staaten durch Ausführungs-Gesetze zu den 
Bundestags-Beschlüssen vom 13. Juli 1854 gestaltet hatte, entgegen. Am 19. April 1908 ist 
aber ein Vereins- wid Versammlungsrecht für das Deutsche Reich zum Gesetz erhoben das 
die Rechtseinheit auf dies Gebiet ausgedehnt und die bürgerliche Freiheit darin erweitert
	        
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