Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Emil Stutzer, Staatsbürgerliche Bildung und Erziehung. 951 
  
Lebens zu erklären, Achtung vor der Verfassung und der Rechtsordnung einzuflössen, Liebe zur 
engeren und zur weiteren Heimat zu erwecken sowie Ziele für die freudige Mitarbeit am Staate vor 
Augen zu stellen. Alle Belehrungen sind daher an das Nächstliegende anzuknüpfen und möglichst 
anschauliche Beispiele aus dem Erfahrungskreise der jungen Leute auszuwählen, dagegen ist von 
systematischer Erörterung wirtschaftlicher und rechtlicher Grundbegriffe abzusehen. So können 
die Fach- und Fortbildungsschulen durch die gesamte Gestaltung der Arbeit den Gemeinsinn und 
das Verantwortlichkeitsgefühl entwickeln und stärken. 
Doch die Einwirkung jedweder Schule bedarf der Unterstützung des Elternhauses, dessen 
direkte und indirekte Erziehung (z. B. durch Überwachung der oft so verhängnisvollen Lektüre) 
auch dann nicht entbehrt werden kann, wenn die durch den bekannten Erlass des preussischen 
Kultusministers vom 18. Januar 1911 näher gekennzeichnete systematische Jugendpflege einsetzt. 
Auf Grund dieses Erlasses sind bereits neue Organisationen geschaffen worden; doch auch die 
alten nationalen Verbände, unter denen der die Parteipolitik ganz ausschaltende Deutsche Frauen- 
bund besonders erwähnt sei, müssen sich gegenüber der von der internationalen Sozialdemokratie 
drohenden Gefahr auf jede Weise an der staatsbürgerlichen Erziehung vor allem der schulent- 
lassenen Jugend beteiligen. Politik und Parteipolitik sind zwar nicht Gegensätze, aber auch nicht 
identisch. Wer ist ein guter Staatsbürger * Der Konservative, der Liberale, der Zentrumsmann oder 
derjenige, der allen Massnahmen der Regierung unbedingt zustimmt? Der Angehörige jeder 
Partei erhebt den Anspruch, ein guter Staatsbürger zu sein, und weist entschieden die Behauptung 
zurück, erseiesnicht. Daraus ergibt sich, dass der Begriff des Staatsbürgers wesentlich umfassender 
ist als der des Parteimannes. Dieser will nicht nur Staatsbürger, sondern zugleich Vertreter einer 
bestimmten politischen Anschauung sein und sie im öffentlichen Leben möglichst zur Geltung 
bringen, wobei die Gefahr nahe liegt, dass er durch die Parteibrille sieht. Nur derjenige wird dieser 
Gefahr nicht unterliegen, dem schon in der Schule (s. oben) die Überzeugung von der „heiligen 
Ordnung‘ des Staates und von der Unvermeidlichkeit gewisser Mängel auch bei dieser menschlichen 
Einrichtung in Fleisch und Blut übergegangen ist, so dass ihm später der Grundgedanke des Staates, 
die „objektive Sittlichkeit‘‘ als Inbegriff aller Gerechtigkeit, zum unverrückbaren Bestandteil des 
geistigen Lebens wird. Weil alle Parteien, namentlich die sozialdemokratische, bemüht sind, die 
Jugend für sich zu gewinnen, so ist eine unbefangene „politische Kinderlehre“ in der Schule un- 
bedingt nötig, damit die Auffassung, der Staat habe über der Partei zu stehen, mehr und mehr im 
politischen Leben zur Geltung kommt. 
Die zwischen Schule und Heeresdienst klaffende Lücke tut vor allem wegen der ebenso 
eifrigen wie vielseitigen Belehrungen, die von der sozialdemokratischen Partei ausgehen, den 
nationalen Bestrebungen oft schweren Abbruch. Um diese Lücke in wahrhaft staatsbürgerlichem 
Sinne auszufüllen, müssen besondere Massnahmen ergriffen werden; in erster Linie kommen frei- 
willige Fortbildungskurse in Betracht, die nicht von der Schule oder von einer Behörde, sondern 
von politischen und Bildungs-Vereinen sowie von wirtschaftlichen Verbänden zu veranstalten sind. 
Alle diese verschiedenen Vereine müssen sich auch die Erweiterung der staatsbürgerlichen Bildung 
bei Erwachsenen in grösserem oder geringerem Masse angelegen sein lassen, zum staatsbürgerlichen 
Sinn erziehen, den politischen Willen erwecken, damit ein möglichst weiter Kreis der Staatsbürger 
mit den Lebensinteressen des Staates verflochten wird und dem Werte des einzelnen für den Staat 
die Bedeutung des Staates für den einzelnen entspricht. Dann vereint das Band nationaler Lebens- 
gemeinschaft alle Parteien. 
Zur Erfüllung dieser Aufgabe kann auch die Grossmacht Presse viel beitragen, weil sie be- 
deutenden Einfluss auf das politische Denken weiter Kreise ausübt. Daher sollten die weitver- 
breiteten grösseren Zeitungen niemals das Verbindende über dem Trennenden vergessen und „in 
jedem Deutschen zuerst den Landsmann, nicht den politischen Gegner sehen‘ (Bismarck). Er- 
freulich ist, (ass seit kurzem neutrale Jugendwochenschriften sich in den Dienst der staatsbürger- 
lichen Bildung stellen. 
Im allgemeinen kommt es auch bei der staatsbürgerlichen Erziehung weniger auf Mass- 
regeln an als auf Personen, die freudig und tatkräftig in die Zukunft blicken und ihre Überzeugung 
betätigen: wer das Ganze heben will, muss auf Hebung der einzelnen bedacht sein.
	        
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