Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Karl Bücher, Die Presse. 267 
Alle diese Veranstaltungen beherrscht der Grundsatz der Aktualität. Jede Zeitung sucht 
es in der Raschheit der Berichterstattung den andern zuvorzutun. Zwar hat das zwei- bis drei- 
malige tägliche Erscheinen, das im Deutschen Reiche und in Österreich für die grösseren Blätter 
fast zur Regel geworden ist, in andern Ländern kaum Nachahmung gefunden; aber auch in diesen 
findet die Forderung grösster Schnelligkeit der Herstellung in der Entstehung besonderer Morgen- 
und Abendblätter, in der Verbreitung der Setzmaschine und der Rotationsmaschine für den Druck 
ihren Ausdruck, vor allem aber in der Organisation der Stoffgewinnung. 
Diese letztere hat schon früh damit begonnen, das Gesetz der Massenproduktion auf die 
Nachrichten-Sammlung und-Verarbeitung anzuwenden. Es entstandenK pondenz-Bureaux, die 
meist von den Landeshauptstädten aus es übernahmen, die Zeitungen mit Artikeln zu versorgen, 
die sie ihnen auf einseitig bedruckten oder autographierten Blättern zu beliebiger Benutzung 
regelmässig lieferten. Diese Korrespondenzen haben sich im Laufe der Zeit ausserordentlich ver- 
mehrt; sie haben sich nach Parteirichtungen oder Stoffgebieten spezialisiert, und da sie ohne Quellen- 
angabe von den Redaktionen benutzt werden können, so ist für letztere die eigene geistige Tätigkeit 
auf ein Mindestmass herabgesetzt. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bilden die „kopflosen Zei- 
tungen“, welche von der Hauptstadt aus den ganzen für ein kleines Blatt notwendigen Stoff in 
Klischees regelmässig druckfertig versenden, so dass die Herausgeber in der Provinz nur noch die 
Lokalnachrichten und den Annoncenteil hinzuzufügen haben. ' 
Aus den Korrespondenz-Bureaux sind die Depeschen- Agenturen hervorgewachsen, Anstalten, 
welche zur Nachrichten-Sammlung und -Übermittlung sich des Telegraphen und des Telephons be- 
dienen und dafür ein weitgreifendes Netz von Korrespondenten und Filialbureaux über die Länder 
ausgespannt haben. Fast jedes grössere Staatswesen besitzt mindestens eine dieser Agenturen: 
England das Reutersche Bureau, Frankreich die Agence Havas, das Deutsche Reich das Wolff’sche 
Bureau, Österreich das offizielle k. k. Telegraphen-Korrespondenzbureau usw. In der Regel sind 
diese Anstalten Aktiengesellschaften, unterliegen also den Erwerbsinteressen ihrer Eigentümer. Auf 
der anderen Seite sind sie von den Regierungen der betreffenden Staaten abhängig, unterliegen 
also in Ausmass und Zuschnitt der Nachrichten, welche sie verbreiten, der offiziösen Zensur. Nur 
die nordamerikanische Zeitungspresse hat sich von dieser Beeinflussung unabhängig zu erhalten 
vermocht, indem sie für ihre telegraphische Nachrichtenversorgung ein auf genossenschaftlicher 
Grundlage ruhendes Institut, die Associated Press begründete. Eine ähnliche Einrichtung ist die 
schweizerische Depeschenagentur; aber sie ist von den Agenturen der Nachbarstaaten, namentlich 
der Agence Havas abhängig. Neben den all inenTelegraphen-Agent gibt esin verschiedenen 
Staaten noch Spezialagenturen für besondere Arten von Nachrichten. 
Fast alle diese Agenturen stehen mit einander im gegenseitigen Nachrichten-Austausche, 
und es wird dadurch den Zeitungen möglich, von jeder derselben die neuesten Nachrichten aus der 
ganzen Welt zu beziehen. Der Stoff, den sie liefern, ist ein unendlich reicher; aber er ist je nach der 
Quelle verschieden präpariert und bedürfte eigentlich, bevor er dem Publikum vorgesetzt wird, 
einer sorgfältigen Quellenkritik. Nicht jede Redaktion ist dazu imstande, und so kommt es, dass 
gerade die einflussreichsten dieser Anstalten in weiten Lündergebieten oft das öffentliche Urteil 
über Zeitereignisse in einer dem Völkerfrieden abträglichen Weise bestimmen. Sie fördern in der 
Politik die Interessen der Staaten, welche sie kontrollieren und deren Auffassungen sie — nicht selten 
zum Schaden anderer Staaten — verbreiten. Nur auf dem Gebiete der Handelsnachrichten pflegen 
sie einwandfrei zu arbeiten und der Geschäftswelt unschätzbare Dienste zu leisten, die ihnen meistens 
dadurch vergolten werden, dass neben den Zeitungen auch grosse Privatinteressenten auf ihre 
Nachrichten abonniert sind. 
Allem Anscheine nach ist der Einfluss der Depeschen-Agenturen auf das Zeitungswesen noch 
immer im Wachsen begriffen, während die Korrespondenzen sich eher im Rückgang befinden. Ja 
man kann vielleicht sagen, dass die Agenturen seit der Einschaltung des Telephons in ihren Dienst 
und der Verbilligung des Telegramms durch gemietete Drähte bewusst darauf ausgehen, die litho- 
graphierten Korrespondenzen zu ersetzen. Immer grösser wird die Masse des Unwichtigen, das sie 
bringen. Das Publikum lässt sich geduldig diesen Mischmasch von wichtigen und unwichtigen 
Nachrichten gefallen, welche die Presse in der grob tatsächlichen Form weitergibt, in der sie einge-
	        
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