370 Karl Bücher, Die Presse.
seine Zwecke bedient; aber er hat ihr seine Verachtung bei mehr als einer Gelegenheit zu erkennen
gegeben und persönliche Anfechtungen in Zeitungen so regelmässig mit Strafanträgen verfolgt, dass
er dazu gedruckter Antragsformulare bedurfte. Mehr als einmal sind für ihn „kalte Wasserstrahlen“,
die er durch die Presse erteilte, zu einem Mittel geworden, das er anwandte, wo die Künste der Diplo-
matie versagten.
Heute, wo auf dem Gebiete der auswärtigen Politik der grosse Einfluss der Presse mit Händen
zu greifen ist, kann man die Gefahren ihres Wirkens kaum mehr unterschätzen. Enthüllungen
und Übertreibungen in den Zeitungen sind fortgesetzt am Werke, um die Gegensätze zwischen den
Völkern zu verschärfen, und der verhängnisvolle Einfluss der regierungsseitig adaptierten Berichte
der grossen Depeschen-Agenturen wie einzelner begabter Korrespondenten ist auf Schritt und Tritt
in der Gestaltung der internationalen Beziehungen zu verspüren. Es wird sich nicht verkennen
lassen, dass die Diplomatie einen Teil ihrer Aufgabe an die Presse verloren hat.
Und auch in der inneren Politik ist ihr Einfluss gewachsen. Nicht nur dass sie in der sach-
kundigen Erörterung schwebender Fragen die Arbeit von Regierung und Volksvertretung ergänzt
und unterstützt, der ganze Parlamentarismus würde zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, fehlte
ihm die Publizität des Presse, und ebenso würde die Öffentlichkeit der Rechtsprechung ohne sie
ein wesenloses Prinzip bleiben.
Kein Wunder, dass unter diesen Umständen die Staatsregierungen sich der Unterstützung
der Presse in dieser oder jener Form zu versichern suchen. Fast alle haben ihre amtlichen Tages-
zeitungen, in denen Gesetze und Verordnungen publiziert und verschiedenerlei öffentliche Anzeigen
erlassen werden, für welche die Gesetze Publizität vorschreiben. Diesen offiziellen Zentralorganen
treten zahlreiche Kreisblätter, Amtsverkündiger u. dergl. zur Seite, durch welche bis in die kleineren
Verwaltungseinheiten hinab die An- und Absichten der Regierung in authentischer Form verbreitet,
widerstreitende Ansichten bekämpft, kurz der staatlichen Oberleitung günstige Stimmungen erzeugt
werden können. Dazu kommen offizielle ‚literarische Bureaux“, welche namentlich die Klein-
presse mit Artikeln versorgen.
Weit schwieriger ist die offiziöse Presse zu umschreiben, d.h. diejenigen privaten Zeitungs-
unternehmungen, welche regelmässige Beziehungen zur Regierung unterhalten, von ihr mit Infor-
mationen versehen werden und sich eventuell auch dazu hergeben, in Regierungskreisen geschriebene
Artikel in unauffälliger Form zu veröffentlichen. Von den Blättern, welche täglich der herrschenden
Gewalt einen gewissen Raum unbedruckten Papiers zur Verfügung stellen, bis zu den Zeitungen,
welche bloss Fühlung mit der Regierung halten, um das von ihr erlangte Material in einer ihren
Redaktionen beliebenden Weise zu benutzen, ist eine grosse Mannigfaltigkeit von Graden der Ab-
hängigkeit und des Entgegenkommens. Immerhin würde bei schärferem Zusehen in diesem Zwielicht
der Erscheinungen auch manches Bedenkliche zu entdecken sein, wie denn der dafür erfundene
Ausdruck „Reptilienpresse‘‘ bei uns in Deutschland den Tiefstand politischer Charakterlosigkeit
bedeutet. Aber es gibt doch auch noch andere Verhältnisse der politischen Abhängigkeit in der
Presse, und die Stellung eines Blattes, das von einer Partei oder einer Interessentengruppe erhalten
wird, dürfte oft viel grössere Opfer der persönlichen Überzeugung fordern, als sie ein grosser Teil
der halb oder ganz offiziösen Presse verlangt. Dass in der auswärtigen Politik die gesamte Presse
des Landes so lange als möglich eine der Regierung freundliche Haltung bewahrt, ist eine Forderung,
deren Berechtigung nur von einer hirnwütigen Opposition verkannt werden kann.