Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 287
fassung).“) Eine andere Notwendigkeit besteht, wo sich der Gesetzgeber schon einmal zu einem
Gesetze bestimmten Inhalts verpflichtet hat. Eine derartige Bindung, zuweilen um Augenblicks-
erfolges willen, steht freilich nicht im Einklange mit der Vormachtstellung des Gesetzgebers und
ist geeignet, sie zu diskreditieren, wenn veränderte Umstände, z.B in der Zusammensetzung der
Volksvertretung, die Erfüllung des Versprechens hindern oder hinausschieben (die Verheissungen
in der deutschen Bundesakte, in der preussischen Verfassungsurkunde, die sog. lex Trimborn im
Zolltarifgesetze, das Wahlkreisgesetz im Reiche) — sie ist deshalb grundsätzlich zu vermeiden.
Freilich kann eine gewisse Regelmässigkeit schon in dem Inhalte der Gesetzesaufgabe liegen, wie
beim Staatshaushalte. Dann ist die Bindung selbstverständlich. Und sie kann einen gewiss zu
billigenden moralisch-politischen Zweck verfolgen, um bei dem Wechsel der Volksvertretung be-
stimmte Richtlinien für Massnahmen festzuhalten, die vor Schwankungen behütet werden müssen
(vgl. Militärgesetz, Flottengesetz). Hierzu tritt in neuerer Zeit nicht selten eine durch inter-
nationalen Vertrag, in besonderem Masse bei Gründung eines Bundesverhältnisses, geschaffene
Pflicht oder sich ergebende Notwendigkeit zum Erlass innerstaatlicher Gesetze, z. B. durch die
Brüsseler Antisklavereiakte oder für die Anpassung der Zuckersteuer an die internationale Zucker-
konvention, der Telegraphengesetzgebung, des Eisenbahnfrachtrechts, des Arbeiterschutzes usw.
an das internationale Recht: das geht letztens — bei der Wechselordnung — gar so weit, den Wort-
laut des nationalen Gesetzes vorzuschreiben. “)
Auf der andern Seite birgt die Neigung zur Spezialgesetzgebung, um Bedürfnissen,
sobald sie auftauchen, zu genügen, eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die in der Geschlossen-
heit des gesetzlichen Aufbaus liegende Wirkung gesetzgebender Gewalt.
Unter solehen Umständen wird man über den Inhalt der Gesetze nur mit Vorsicht und nur
vereinzelte Leitsätze aufstellen können.
Dass Gesetze nicht ab irato erlassen werden, begreift sich wohl. Das hat aber nichts mit
einer Ablehnung von sog. Ausnahmegesetzen schlechthin zu tun.
Einen Eingriff in die Vermögensstellung des einzelnen, in sogenannte „wohlerworbene
Rechte“ betrachtet man nicht günstig, und man wird aus Gründen der Billigkeit für den Verlust
oder die Beschränkung der Erwerbsmöglichkeit infolge eines Gesetzes eine Geldentschädigung
eintreten lassen.) Dies ist bei der Einschränkung des Betriebs der Privatposten und letztens
wieder mit der Novelle zum Tabaksteuergesetz vom 15. Juli 1909 (R G.Bl. 705) zugunsten der
infolge des Gesetzes arbeitslos gewordenen Hausgewerbetreibenden und Arbeiter anerkannt worden,
nicht dagegen bei der einschneidenden Monopolisierung der Lebensversicherung in Italien.
Die Wirkung des Gesetzes soll sich eben nur in die Zukunft erstrecken. Gesetze mit rück-
wirkender Kraft“) untergraben das Vertrauen in die Stetigkeit der durch die Gesetzgebung
geschaffenen Rechtslage. In einzelnen Staaten, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika und
Norwegen, sind sie durch die Verfassung geradezu verboten. Doch übersieht solch ein allgemeines
Verbot über der Fülle des Normalen den Notfall. Das Prinzip darf nicht zum Hemmnis werden,
um schweren Missständen zu begegnen, deren Abhilfe das öffentliche Gewissen erfordert
(Sklaverei), unter Umständen auch um ein Andrängen der öffentlichen Meinung (Wiederaufnahme
des Verfahrens bei der Beamtendisziplin) zu befriedigen, natürlich auch im Falle einer authentischen
Auslegung, um das Gesetz selbst in seinem richtigen Bestande zu sichern. Kein Gegenstand ist
der Möglichkeit rückwirkender Regelung entzogen, auch nicht die Finanzgesetzgebung, wiewohl
hier die Interessenlage den schärfsten Widerstand entfacht (z. B. die Zollverordnungen in den
Kolonien mit rückwirkender Kraft); denn auch sie kann sehr wohl im Interesse der Allgemeinheit
%) Hierher kann man auch die ‚‚Assimilationsgesetzgebung‘“ rechnen, die Frankreich gegen seine
Kolonien anwendet.
46) Drucksache des Reichstags 13. Leg.-Periode, I. Session 1912/13 Nr. 1002.
#) Der Punkt ist lebhaft bestritten; vgl. jetzt Otto Mayer „Entachädigungspflicht des Staates‘ im
Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechts? I 1911 S. 731.
4) Ausführungen und Literatur bei O. Giorke, Deutsches Privatrecht I 1895 88 23, 24, Fleiner,
Institutionen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 1912 8. 88.