K. Schulz, Die Entlastung des Reichsgerichts. 349
Gründen, eine innere, moral:sche Bedeutung bei, welche schwerer wiegt, als die Abschätzung
in Geld mit ihrem rein zufälligen und leicht beeinflussbaren Charakter. Gewiss wird unter Umständen
durch den Ausschluss der Revision bei gleichlautenden Entscheidungen ein maasgebendes und be-
deutsames Eing:eifen des Reichsgerichts verhindert. Aber das ist auch der Fall in den Rechtssachen
mit einer Beschwerdesumme zwischen 2500 und 4000 Mark. Bei dem Difformitätsprinzip führt die
Differenz der beiden Instanzen in diesen Fällen die Zulässigkeit der Revision herbei, die jetzt über-
haupt ausgeschlossen ist. Es ist auch nicht zu verkennen, dass durch die Erhöhung der Revisions-
summe ganze Rechtsgebiete, bei denen die Streitobjekte nicht so hoch bewertet werden können,
der einheitlichen Regelung durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts in einem viel höheren
Grade entzogen werden, als durch den Ausschluss des Rechtsmittels bei konformen Entscheidungen
m.t den obenerwähnten Kantelen.
Wie das Difformitätsprinzip auf die praktische Tätigkeit der Oberlandesgerichte einwirken
würde, ist sehr verschieden beurteilt worden. Ich glaube, dass die vermehrte Selbständigkeit nicht
zu einer oberflächlicheren, sondern zu einer gründlicheren Bearbeitung der nicht revisiblen Ent-
scheidungen und damit zu einer Stärkung und Hebung der Oberlandesgerichte sowie zu einem
grösseren Interesse der Regierungen für ihre Förderung und gute Besetzung geführt hätte.5)
Wiederholt ist bei der Beratung der Prozessnovelle von 1910 betont worden, dass als wirksame
Mittel der Entlastung, falls man nicht Senate und Mitglieder des Reichsgerichts dauernd vermehren
will, nur Dif:ormitätsprinzip und Erhöhung der Revisionssumme in Betracht kommen. Auf die
anderweit vorgeschlagenen Hilfsmittel möge daher hier nur kurz hingewiesen sein.
Da nur etwa eın Fünftel der eingewendeten Revisionen von Erfolg ist, liegt die Erwägung
nahe, dass bei einem Teile der erfolglosen vier Fünftel die Erfolglosigkeit mit einer annähernden
Sicherheit hätte vorausgesehen werden können. Der Wunsch, dass die Rechtsanwaltschaft am Reichs-
gericht strenger in der Auswahl der zur Revision geeigneten Rechtssachen verfahre, ist von ihr nıcht
leicht zu erfüllen, nicht sowobl weil die Rechtsanwälte erster und zweiter Instanz mit der
beschränkenden Handhabung der Revision durch die absichtlich in begrenzter Anzahl gehaltene
Rechtsanwaltschaft am Reichsgerichte aufs äusserste unzufrieden sind, sondern weil die Erfolg-
losigkeit bei der verschiedenen Praxis der Senate nicht sicher beurteilt werden kann. Sehr ein-
greifend ist, dass Personen in verantwortlicher Stel.ung, wie Vorstände von Korporationen usw.
zu ihrer Entlastung die Durchführung des Prozesses bis zur letzten möglichen Instanz nötig haben.
Hierin eine praktische Änderung eintreten zu lassen, is: sehr schwer. Zu dem vorgeschlagenen all-
gemeinen oder nur fakultativen Ausschluss der mündlichen Verhandlung vor dem Reichsgericht —
der letztere war im Entwurf der Novelle von 1910 vorgesesen — hat man sich nıcht ent-
schliessen können, weil der lebendige mündliche Vortrag von beiden Parteien zur raschen Erfassung
der Prozesslage und zur Würdigung aller rechtlichen Gesichtspunkte vorteilhafter erscheint, als
der Vortrag durch einen Referenten. Die Vorprüfung der Revisionen kann von wesentlichem
Vorteil für dıe Entlastung nur dann sein, wenn sie nicht durch den Senat geschieht, sondern nur
durch ein oder zwei Mitglieder. Dem Bedenken, dass dann nicht ein Spruch des Gerichts vorliegt,
ist eine entscheidende Bedeutung nicht beizulegen. Jedenfalls würde diese Vorprüfung wirksamer
sein, als die zurzeit durch die Rechtsanwaltschaft ausgeübte; bei dıeser wiegt zudem das erwähnte
Bedenken noch schwerer. Die Ablehnung der Einlegung der Revision durch die Rechtsanwälte am
Reichsgericht wird zuweilen als eine Härte empfunden, bei der die rechtfertigende Autorität ver-
misst wird. Die Vorprüfung durch Mitglieder des Gerichts hat innerhalb des Gerichtshofes selbst
entschiedene Befürworter.6) Der Einwand, dass sie dem Prinzip der Mündlichkeit widerspreche, ist
als rein theoretisch nicht ausschlaggebend ; die Tragweite des Hılfsmittels ist jedoch ohne praktische
Erprobung schwer zu übersehen. Würde seine Einführung die Zahl der zur Beratung und Ent-
scheidung durch das Gericht gelangenden Revisionen verringern, so wird sie andererseits die der ein-
gelegten Rechtsmittel doch wohl vermehren. Die von vereinzelter Stimme?) befürworteten
6) Weitere Ausführungen über das Difformitätsprinzips. inSchulz, Der Kampf S. 33 ff.
*% Hagensa, Die Entlastung des Reichsgerichts, D. Jur. Zeit. 1909 Ss. 1110 ff. Krantza.a. O. S.33 ff.
?) Peters 2.2.0.8. 112ff. Übrigens stellt die 1910 erfolgte Erhöhung der Gerichts- und Anwalts-
kosten bereits eine ganz gehörige Sukkumbenzstrafe dar.