Ernst Beling, Strafrechtspflege. 353
dass zwischen ihnen geistiger Zusammenhang und Wechselwirkung nicht möglich sind und dass sie
nicht so sorgsam ausgewählt werden können, wie es bei einer kleineren Zahl geschehen kann. Das
Gericht muss in so viele Abteilungen zerfallen, dass es aufhört ein Gerichtshof zu sein und dass
wechselnde und innerlich ungleichartige Entscheidungen, welche das Ansehen des Gerichts
schädigen, unvermeidlich sind. Kritik und Beschwerde über sich widersprechende Urteile des Reichs-
gerichts bilden ein ständiges Thema in den Zeitschriften. Praxis und Rechtswissenschaft werden
durch massenhafte Präjudizien, die in unkontrollierter Weise aufgestellt und von den Untergerichten
auch da angewendet werden, wo sie nicht passen, beengt und gefährdet. Die den Ballast der Ent-
scheidungen gewissenhaft verstauenden Kommentare zu den Gesetzbüchern werden immer umfang-
reicher und verengern mehr und mehr den Raum für das freie richterliche Urteil. Die Arbeit eines
solchen allzugrossen Gerichtshofes wird vielleicht in einigen Fällen einer oder der anderen Prozess-
partei zum Siege verhelfen, dem geistigen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes wird
sie aber nicht den erwarteten Vorteil bringen, vielleicht sogar mehr schaden als nützen. Möge es
gelingen, das Eintreten eines solchen Zustandes zu verhindern.
26. Abschnitt.
a) Strafrechtspflege.
Von
Dr. Ernst Beling,
o, Professor der Rechte an der Universität München.
Literatur:
Eine umfassende systematische Darstellung der Strafrechtspllegepolitik als solchen fehlt. Über Einzel-
probleme ist seit der aufklärungsperiode (vgl. insbes. Beccaria, Dei delitti e delle pene 1764, deutsche
Übersetzung von Esselborn, 1905) unübersenbar viel geschrieben worden. Mit ihnen beschäftigen sich
rerelmässig mehr oder minder auch die dogmatischen Darstellungen des Strafjrozessrechis (teilweise unter Er-
wähnung der Literatur de lege ferenda): die Lehrbücber des Strafprozessrechts von Geyer(1880), v. Kries(1892),
Ullmann (1893), Bennecke (1895), Ta Beling (1900), Rosenfeld *- (19:2), Graf Dohna (1913);
die „Vorlesungen“ von Birkmeyer (1898); der Grundriss von Bindıng35 (1904); die Handbücher von
v. Hloltzendorff (1877—1879 und a (1883, 1856); die kurzgefassten Darstellungen von v. Li
thal in Birkmeyers Enzyklopädie der Rechtswissenschafi? (1904) und Beling in v. Holtzendorff-Kohlers
Enzyklopäd!e der Rechtswissenschaft ? (1913). Reiches Material an gesetzgebunsspolitischen Erwägungen bieten
die Verhandlungen des deutschen Juristentages (seit 1860) und die Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen
Vereinigung (seit 1889). Vgl. ferner Motive zu dem Entwurf (I) einer deutschen Strafprozessordnung, Berlin,
Kel. Geh. Oberhofbuchdruckerei, 1872; desgl. zu Entwurf II. daselbst 1873, zu Entwurf Il. Drucksachen des
Reichstages 11, Legislaturperiode, II. Session 1874, zu Nr. 5 (A); Protokolle ‘der Kommission für die Retorm des
Strafprozesses, 2 Bde, Berlin, Guttentag, 1905. Aschrott, Reform des Strafprozesses, 1906: (Reichsjustiz-
amts-) Entwurf einer Strafjrozessordnung nebst Begründung. Amıl. Au-gabe, Berlin. liebmann. 1908; Begründung
zu den (Bundesrats-) Entwürfen einer...... Strafprozessordnung, Drucksachen des Reichstares, 12. Legislatur-
periode, I. Session, zu Nr. 1310 A; Verhandlungen des 19. deutschen Anwalistages, Jurist. Woche: nschrift, Bd. 38
S. D6B ff.; Änderungsvorschläge zum Entwurf einer Str.-Pr.-O., veröffentlicht vom Berliner Anwaltsvere on, Berlin,
Heymann. 1910. Fortlaufende Berichte „zur Strafprozessreform“ in der Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswissen-
schaft seit Bd. 24 (1904).
Wie müssen die St htspfl icht und ihr Wirken beschaffen sein, um den
Lebens- und Entwiekelungsbedingungen < der im Staate geeinten Gesellschaft am besten zu ent-
sprechen? Das ist das in Frageform gefasste Programm der „Politik der Strafrechtspfiege”.
Handbuch der Politik. TI. Auflage. Band I.
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