Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

554 Ernst Beling, Strafrechtspflege. 
  
Wenn „politische“ Betrachtungsweise diejenige ist, die die Einzelerscheinungen des mensch- 
lichen Gesamtlebens, soweit sie menschlicher Gestaltung zugänglich sind, mit der idealen Gestaltung 
des Staates vergleicht und sie unter diesem Gesichtspunkt wertend dem Ideal anzupassen bestrebt 
ist, so ist es selbstverständlich, dass sich auch die Strafrechtspflege solcher Betrachtungsweise nicht 
entziehen kann. Den politischen Gesichtspunkt an die Strafrechtspflege heranbringen heisst also 
diese letztere deskriptiv-kritisch derart würdigen, dass das „Soll“-Ergebnis dieser Würdigung im 
Einklang steht mit dem politischen Gesamtideal. Unvermeidlich ist, dass sich auch auf diesem eng- 
begrenzten Gebiete die Geister nach ihrer politischen Gesamtauffassung scheiden müssen. Starke 
Betonung des Werts des Individuums, der Würde der Persönlichkeit, der einbruchssicheren Privat- 
sphäre wird gerade für den Strafprozess eine ganz andere Ausgestaltung bedingen, als eine sozi- 
alistische Grundauffassung jener Art, die den Wert des Einzelnen nichts oder nur wenig gelten lässt, 
wo Gesamtheitsinteressen gegen das Einzelinteresse anlaufen. Ein auf individualistischen Grundton 
gestimmter Strafprozess wird dahin neigen, den Beschuldigten ganz wie den Beklagten im Zivil- 
prozess zu stellen, ihn von jeder Auskunftspflicht zu entbinden, seine Anwesenheit nicht durch 
Untersuchungshaft zu erzwingen, ihn zum Eide zuzulassen, die Verteidigung in weitesten Grenzen 
freizugeben, ein Manko an Beweis stets zu Gunsten des Beschuldigten ausschlagen zu lassen, Rechts- 
mittel gegen das gesprochene Urteil in möglichster Breite zu eröffnen und dabei auch der Rechts- 
kraft möglichst wenig einengende Bedeutung zu verleihen, vielleicht sogar das gesamte Rechtsmittel- 
system lediglich dem Verurteilten zur Verfügung zu stellen und dem Kläger zu versagen. Ein solcher 
Strafprozess wird aber auch ungern Dritte in Mitleidenschaft ziehen, demnach nicht nur Beschlag- 
nahıne- und ähnlichen Zwang gegen sie vermeiden, sondern auch die Ablehnung einer Zeugenaus- 
sage im Hinblick auf private Interessen des Dritten möglichst weit zulassen. Ein aus sozialistischer 
Grundauffassung erwachsener Strafprozess wird umgekehrt Erscheinungs- und Geständnispflicht 
des Beschuldigten normieren, die Untersuchungshaft zur voraussetzungslosen Regel machen (wie es 
der vormalige Militärstrafprozess tat), die Folter — solange sie nicht als untaugliches Mittel zur Er- 
zielung wahrheitsgemässer Geständnisse erkannt ist — gegen den leugnenden Beschuldigten an- 
wenden, die Verteidigung in bescheidene Grenzen bannen, das gesprochene Urteil und gar erst das 
rechtskräftige gegen Anfechtung durch den Beschuldigten schützen und womöglich nur Prozess- 
erneuerung zu Ungunsten des Beschuldigten gestatten usw., aber auch gegen Dritte die Schonung 
beiseite setzen, Sicherungszwangsmittel auch gegen sie ausspielen, Beweisverbote, die dem pri- 
vaten Interesse dienen, ablehnen, ja sogar (wie das römische Recht) auch die Zeugen erforderlichen- 
falls unter die Folter stellen. 
Aber auch der eigentliche partei politische Standpunkt wird folgerichtig für die straf- 
justizpolitischen Forderungen des Einzelnen richtunggebend sein, wie denn auch die Parteipro- 
gramme zum Teil Punkte, die zur Strafjustiz gehören, berühren, und jeweils die Strafprozessvor- 
lagen in den Parlamenten eine itio in partes nach rechts und links ausgelöst haben. Konservative 
und liberale Grundauffassung haben z. B. verschiedene Haltung zur Folge gehabt in den Fragen nach 
Gestaltung der Verteidigung, in den Fragen nach Sicherstellung der Parlamentsgebäude und 
der Abgeordneten vor prozessualer Durchsuchung, Befreiung der Abgeordneten und der Zeitungs- 
redakteure von der Zeugnispflicht usw. 
H' “ Aber so sehr diese Zusammenhänge zwischen subjektiver Grundauffassung und den an die 
Strafrechtspflege zu stellenden Anforderungen vorhanden sind und Beachtung heischen, so er- 
scheint doch der Versuch nicht aussichtslos, den Subjektivismus dadurch bis zu einem gewissen 
Grade zu überwinden, dass die der Strafrechtspflege immanenten Bedürfnisse, Notwendigkeiten 
und Möglichkeiten zum Ausgangspunkte genommen, dann erst die auftretenden Werte und Gegen- 
werte in Rechnung gestellt werden, und dadurch der Doktrinarismus der subjektiven Prinzipien 
ausgeschaltet wird. Nicht, als ob bei einem methodischen Vorgehen solcher Art die fundamentalen 
politischen Strebungen als gänzlich bedeutungslos beiseite geschoben werden könnten: sie melden 
sich auch so an der Stelle zum Worte, wo die Werturteile einsetzen. Aber diese Werturteile werden 
anders ausfallen und grösseren Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können, wenn die „Prin- 
zipien“ auf ihr Passen und ihre Fruchtbarkeit hin an der Eigenart der Strafrechtspflege gemessen 
werden, ale wenn umgekehrt diese lediglich vor den Richterstuhl der Prinzipien‘ gestellt wird.
	        
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