Ernst Beling, Strafrechtspflege. 355
Der Versuch, die Politik der Strafrechtspflege von innen heraus aufzubauen, soll im Folgenden
unternommen werden.
Der nachfolgenden Untersuchung sind indes enge Grenzen gesteckt: quantitativ insofern, als
es sich lediglich um eine Skizze handelt; qualitativ insofern, als lediglich die „Strafrechtspflege“ in
politische Beleuchtung gerückt werden soll. Das letztere will freilich nicht sagen, dass von den aog.
politischen Prozessen und nur von ihnen zu handeln wäre. Mit dieser Bezeichnung belegt man in der
Regel solche Prozesse, bei denen die in Rede stehende Tat als sog. politisches Delikt (etwa Hoch-
verrat) in Frage kommt oder unter Begleitumständen begangen ist, die der ihrer juristischen Wesens-
art nach ein unpolitisches Delikt (z. B. Beleidigung, Meineid) darstellenden Tat einen politischen
Einschlag geben. In solchen Fällen liegen die politischen Gesichtspunkte auf dem Felde des materi-
ellen Strafrechts, nicht auf dem der Strafrechtspflege. Letztere fordert zu politischer Be-
trachtung aber auch da heraus, wo der Gegenstand des Prozesses eine Tat ohne jede politische Be-
deutung ist. Beispielsweise taucht die Frage nach den Grenzen der Verteidigung als eine strafrechts-
pflegepolitische auch da auf, wo ein des politischen Interesses ganz entbehrender Diebstahl zur Unter-
suchung gezogen wird. Aber auch dann, wenn man diejenigen Prozesse „politische“ nennen wollte,
an denen Persönlichkeiten in politischer Stellung irgendwie als Beschuldigte, Zeugen pp. beteiligt
sind oder das prozessualische Handeln in die politische Region, etwa in Parlamentsgebäude über-
greift, würde sich die Strafjustizpolitik nicht auf sie zu beschränken haben: auch wo all solche Um-
stände fehlen, behalten die für die Strafrechtspflege auftretenden Probleme ihren besonderen po-
litischen Charakter. Die politischen Prozesse dieser oder jener Art mögen vielleicht zu beson-
deren strafjustizpolitischen Erwägungen Anlass geben (Öffentlichkeit der Verhandlung,
Fesselung des Angeklagten usw.). Aber das Objekt der Strafrechtspflegepolitik bildet das
kriminelle Prozessieren überhaupt. Es gilt festzustellen, wie die zum Straf-
rechtsschutz berufenen Einrichtungen beschaffen sein und wie sie wirken sollen.
4 Rein theoretisch müsste das Programm freilich dahin eine Erweiterung erfahren, dass nach
dem „Ob“ einer Strafrechtspflege überhaupt gefragt würde. Aber praktisch erledigt sich diese Frage.
Es liegt im Wesen der Strafrechtsordnung, wenigstens sobald sie die ältere Entwicklungsstufe der
Privatstrafe überwunden hat, dass sie sich nicht anders als durch das Eingreifen der öffentlichen
Gewalt durchzudrücken vermag. Ohne Eingreifen der Strafrechtspflege wäre die Strafrechtsordnung
selbst verloren.
Auf dem hiernach umrissenen Raum spaltet sich die Untersuchung in zwei Gedankenreihen.
Die eine zielt dahin ab, klar zu stellen, wie die Gesetze beschaffen sein sollen, die für die Straf-
rechtspflegeeinrichtungen und ihr Wirken massgebend sein sollen. Die andere geht hinaus auf Richt-
schnuren für die Staatsorgane da, wo die Gesetze dem Handeln Raum lassen und auf Ermessen und
abstellen. Die Strafrechtspflegepolitik iın ersteren Sinne kann als die
Strafprozessr echts politik bezeichnet werden. Bei den Erwägungen der zweiten Art
handelt es sich um ein Stück Staatskunst; es mag gestattet sein, von einer PolitikderStraf-
rechtspraxis zu sprechen.
Diese Scheidung ist freilich nicht dahin zu verstehen, als stehe von vornherein fest, in welchem
Masse die Strafjustiz gesetzlich festzulegen sei, und von wo ab bei ihr den Staatsorganen freie Hand
zu lassen sei. Im Gegenteil setzen schon hier die Meinungsverschiedenheiten ein. Soll das Gesetz
möglichst wenig oder soll es tunlichst alles in feste Regeln giessen ? Unzweifelhaft geht heute eine
starke Strömung dahin, die starre gesetzliche Regelung mit ihrem unvermeidlichen Formalismus nach
Möglichkeit zurückzudrängen. !) In der Tat ist auch nicht zu verkennen, dass die Gesetzes-
regel mit ihrem Formenzwang, ihrem Fristenzwang usw., mit ihrer Gleichmacherei und
Abstraktion den Lebensinteressen abträglich sein kann. Aber die Gesetzesfessel ist auf
der anderen Seite auch ein Schutz gegen Willkür und schiefe Interessenwägungen durch
die Justizorgane, sowie ein Schutz dieser letzteren gegen den Vorwurf der Willkür
oder Verkehrtheit der Entscheidungen; und insonderheit gewährleistet nur das feste
!) Über die Zusammenhänge dieser Bewegung mit der nach „freier Rechtsfindung‘ bei der Auslegung
drängenden vgl. Rich. Schmidt. Richtervereine 1911.
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