Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. P} ] 
  
Stastsgewalt von oben her durch grössere oder kleinere Bezirksverbände bis hinunter in lokale 
Verhältnisse. Auf der anderen Seite, aus den persönlichen wirtschaftlich-sozialen Motiven, er- 
wächst eine starke Differenzierung des Vermögens der Einzelnen auf agrarischem Gebiete und 
damit das Bildungsmotiv eines neuen agrarischen Adels. Die Merovinger haben nun mit diesen 
Motiven gearbeitet. Wir können sehen, wie sie den neuen Adel begünstigen, und wie sıe ihn durch 
ein altes Motiv des urzeitlichen Absolutismus, den Begriff des Dienstes und der Gefolgschaft an 
sich binden, wie sie auf diese Weise eine Klasse höher stehender Volksgenossen als Organe einer 
überall durchgreifend gedachten Verwaltung, der Grafen-Verwaltung, entwickeln, und wie sie 
sogar die neuen sich eben bildenden Lokalverbände in der Decretio Chlotarii et Childeberti ihrem 
Stsate dienstbar zu machen suchen. Es sind das Richtungen der Entwicklung, die es zugleich ge- 
statten, das alte Ziel des germanischen Staates, die Wahrung des Friedens, nun weit hinweg über 
die früheren kleinen Völkerschaftsgebiete auf ein grosses Reich zu erstrecken. Und mehr noch, in- 
dem in den Staat der Merovinger das Christentum einzieht, wird das Staatsideal gelegentlich auch 
schon auf Zwecke der persönlichen und sozialen Fürsorge erweitert. Freilich handelt es sich in 
dieser Hinsicht mehr um eine persönliche Tätigkeit der Könige, mehr um einen Ausfluss gleichsam 
eines individuellen Christentums in Angliederung an die uralte Verpflichtung der Herrschenden, 
im Haus Milde (Freigebigkeit) zu üben, so dass sich im ganzen und grossen das Staatsideal doch 
auf Friedenswahrung vornehmlich vermöge einer stark durchgreifenden Rechtspflege beschränkt 
sieht. 
Schaut man über die merovingischen Zeiten hinweg hinein in das Reich der Karolinger, so 
kann man eigentlich nicht sagen, dass für die interne Entwicklung zu den merovingischen Zielen 
neue hinzugekommen wären. Nach aussen freilich tritt das Ideal der Kaiserkrone hinzu, und von 
ihm aus ergeben sich auch starke Reflexe auf das innere Verfassungsleben. Im ganzen aber sind 
die Ziele die alten, und nur dies unterscheidet das Zeitalter des neuen, anfangs ungemein kräftigen 
Herrschergeschlechts, dass sie mit grösserer Sicherheit durchgeführt werden. Inzwischen aber war 
schon eine neue Staatsverfassung im Anzuge: 
IN. Der Lehensstaat des Mittelalters. 
Der Lehensstaat ist bekanntlich eine weit über die ganze Erde hin verbreitete Verfassungsform, 
die ganz regelmässig in naturalwirtschaftlichen Zeiten auftritt, wenn wir zunächst einmal die 
Datierung von der wirtschaftsgeschichtlichen Seite hernehmen wollen. Der Zusammenhang ist 
hier sehr einfach. Entsteht in urzeitlichen Staaten, mögen sie noch reiner Demokratie oder auch 
urzeitlichem Absolutismus angehören, mit zunehmender Sesshaftigkeit und zunehmender Ent- 
wicklung der Naturalwirtschaft das Bedürfnis steigender Friedenswirtschaft und Staatsver- 
waltung, so können in einem solchen Zustande, da Grund und Boden das einzig vorhandene wirt- 
schaftliche Machtmittel ist, die Beamten nicht in Geld, sondern sie müssen in Erträgnissen von 
Grund und Boden bezahlt werden. Hieraus entsteht dann eine besondere Form relativer Unab- 
hängigkeit der Beamten, denn während der geldwirtschaftlich bezahlte Beamte immer von dem 
Erfliessen seines Gehaltes von einer bestimmten Zentralkasse abhängig bleibt, ist der natural- 
wirtschaftlich besoldete im Besitze des Grundes und Bodens, dessen Erträgnisse ihm als Gehalt 
dienen, und verfügt damit, geldwirtschaftlich ausgedrückt, gleichsam über das Kapital, als dessen 
Zinsen sein Gehalt erscheint. Diese Stärke gibt ihm eine verhältnismässig grosse Freiheit. Aller- 
dings lassen sich lehensstaatliche Verhältnisse auch noch anders entwickelt denken. Namentlich 
in späteren Stadien des Lehenswesens, bei Beginn der Geldwirtschaft, kann es vorkommen, dass zahl- 
reiche Lehen auf Geld eintreten. Dieser Fall, wie eine ganze Reihe anderer hier.nicht zu erwähnender 
Indizien, ergibt nun schon, dass es sich bei dem Lehenswesen allerdings vornehmlich um eine natural- 
wirtschaftliche Erscheinung handelt, dass das naturalwirtschaftliche Motiv aber an sich das \Vesen 
des Lehenswesens noch nicht deckt. Vielmehr tritt als eigentlich charakteristisch ein psycho- 
logisches Motiv auf, das der Treubindung. Der Fall ist deshalb in so hohem Grade interessant, weil 
uns die Quellen für die Lehenszeit zum ersten Male stark genug fliessen, um eine unbedingt sichere 
Verbindung zwischen den höheren psychologischen Motiven und der Entwicklung der staatlichen
	        
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