360 Ernst Beling, Strafrechtspflege.
Überhaupt hat es seine Bedenken, die Tätigkeit der Beamten der Staatsanwaltschaft an
andere Normen als die des allgemeinen juristischen Denkens zu binden. Ob es wohlgetan ist, sie.
wie es das geltende deutsche Recht tut, an die Anweisungen der Vorgesetzten zu binden und ihnen
die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit (Unabsetzbarkeit usw.) zu versagen, lässt sich
stark bezweifeln. Man sagt, dass diese Stellung der Staatsanwaltschaft unentbehrlich sei, weil die
Regierung auf die Strafverfolgung müsse Einfluss üben können. Diese Beeinflussung von seiten
der Regierung kann aber nur auf zweierlei hinaus wollen: Entweder: es soll ein juristisch nicht
begründeter Strafprozess heraufbeschworen oder ein juristisch begründeter Strafprozess unter-
drückt werden. Dass derartige Tendenzprozesse bezw. Tendenzunterdrückung von Prozessen für das
Gemeinwohl schädlich sind, Erbitterung erzeugen und demoralisierend wirken, lehrt die Geschichte;
aber auch die Regierung selbst kompromittiert sich durch solches Vorgehen in augenfälliger Weise
mindestens dann, wenn es sich um grundlose Anklagen handelt, die von den Gerichten mit Frei-
sprechung beantwortet werden. Oder aber der Einfluss der Regierung ist so gemeint, dass diese
vor juristischen Skrupeln und Irrtümern des mit der Sache befassten Staatsanwalts sichergestellt
wird. Dann ist es selbstverständlich erwünscht, wenn die Regierung, mag sie auch von politischen
Motiven geleitet sein, Remedur schaffen kann. Zu diesem Behufe ist es aber nicht erforderlich,
den Untergebenen durch Anweisungen oder Verkümmerung der unabhängigen Stellung die Hände
zu binden. Es würde vielmehr die gesetzliche Bestimmung genügen, dass jede staatsanwaltschaft-
liche Entschliessung von vorgesetzter Stelle aus ausser Kraft gesetzt werden und die weitere Be-
arbeitung der Sache einem anderen Beamten übertragen werden kann (was in der Hauptsache schon
jetzt Rechtens ist).
Aber auch nach anderer Richtung hin ist die Wahrheit, dass der Staatsanwalt nicht anders
zu arbeiten und zu denken hat, als jeder andere Jurist, zum Teil verdunkelt. Noch ist viel, vielleicht
überwiegend, die Meinung vertreten, dass der Staatsanwalt, wenngleich durch das Gesetz zu voller
Beachtung und Anwendung des Entlastungsmaterials berufen, doch in dubio stets die dem Beschul-
digten ungünstige Lesart zugrunde zu legen habe, und zwar nicht nur, wo er in tatsächlicher oder
juristischer Hinsicht persönlich zweifle, sondern auch, wo er — bei juristischen Problemen — zwar
persönlich im Sinne der dem Beschuldigten günstigen Lösung überzeugt sei, aber eine Streitfrage
existiere. Darüber hinaus wird heute öfter an die Gesetzgebung das Postulat gestellt, sie möge
nach englischem Muster den Strafprozess zum reinen Parteiprozess machen in dem Sinne, dass die
Aufgabe der Staatsanwaltschaft auf Sammlung und Geltendmachung lediglich des tatsächlichen
und juristischen Belastungs materials beschränkt werde.
Schon jene de lege lata verfochtene Meinung ist weder irgendwie im Gesetz begründet,
noch durch triftige Gründe rechtspolitischer Art gestützt. Tatsächlich pflegt die länger dauernde
staatsanwaltschaftliche Tätigkeit ganz von selbst die Neigung zu erzeugen, die Dinge lieber schwarz
als weiss anzusehen. Dem Staatsanwalt aber geradezu die Verpflichtung auferlegen, die ihm unter-
laufenden Fälle nicht so zu erledigen, wie er es als Richter tun würde, heisst die Zwecke verkennen,
zu denen die Staatsanwaltschaft geschaffen ist. Sie soll ja gerade prüfen, ob die Strafverfolgung
im konkreten Falle nach dem Gesetz zu erfolgen hat. Eine Überschwemmung der Gerichte mit
dubiösen Sachen wäre weiter ganz unökonomisch. Auch genügen das private Beschwerderecht,
das Klageprüfungsverfahren und die Dienstaufsicht vollständig, um das Interesse am Eintritt
einer Strafverfolgung gegenüber dem von unbegründeter Skepsis erfüllten Staatsanwalt zum Durch-
bruch zu bringen. Endlich ist wohl nichts so sehr geeignet, die Staatsanwaltschaft mit einem
Odium zu belasten, als die Praxis der „ungünstigen Lesart.‘*)
In noch umfassenderem Masse ist die Forderung zu missbilligen, dass die Staatsanwaltschaft
lediglich contra reum zu wirken berufen sein solle. Ein solcher „Parteiprozess‘‘ würde ein Zert-
bild ergeben, die Ermittelung der Wahrheit gefährden, gänzlich unökonomisch sein, das staats-
*) Etwas ganz anderes ist selbstverständlich, dass der Staatsanwalt die Anklage schon bei hin-
reichendem Verdacht zu erheben hat. Die Annahme, dass hinreichender Verdacht vorliege, ist gesetzliche
Voraussetzung für die Eröffnung des Hauptverfahrens durch den Richter. Ob diese Voraussetzung gegeben
ist, hat der Staatsanwalt mit riohterlichem Auge zu prüfen.