Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

24 Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. 
Form aufzudecken. Man weiss, dass das Lehenswesen erst dadurch vollständig wird, dass sich mit 
der Übertragung von Grund und Boden an den belehnten Beamten seinerseits ein besonderer Eid 
gegenüber der Regierungsgewalt, in den meisten Fällen dem Herrscher, verknüpft. Diese Kon- 
struktion ist insofern eigentümlich, als wir hier für ein wichtiges Verhältnis des Staatsrechts ein 
durchaus sittliches Motiv, das des Treugelöbnisses, eingespannt finden. Das Rätsel löst sich durch 
einen Blick auf die Sittengeschichte. Wir befinden uns in einer Zeit psychologischer Entwicklung, 
die man als typisches Zeitalter bezeichnen kann, und in der die heutigen scharfen Gegen- 
sätze zwischen Sitte und Recht noch nicht bestehen, vielmehr alle sittlichen Begriffe noch so ge- 
bunden erscheinen, dass ihnen in bezug auf die beiden Personen, welche bei ihnen jeweils in Frage 
kommen, der Zwang der Reziprozität, ja der vertragsmässigen Gegenseitigkeit innewohnt. In 
einem Zeitalter von einer solchen Gebundenheit der sittlichen Begriffe versteht es sich ohne wei- 
teres, dass einer dieser Begriffe, der der Treue, direkt in den Mittelpunkt und das eigentliche Herz 
der staatlichen Entwieklung und Konstruktion des öffentlichen Rechts treten kann, derart, dass 
er für den ganzen Staat dieser Zeit das eigentlich Charakteristische ist. 
Freilich werden wir später sehen, dass diese Erscheinung, die auf den ersten Blick befremdend 
wirken kann, doch keineswegs eine Ausnahmeerscheinung ist. Immer und überall ist der Staat 
nichts, als die soziale Reflexbildung des besondern Charakters der jeweils vorhandenen psycholo- 
gischen Persönlichkeit des Einzellebens. . 
Der reguläre Lehensstaat ist in Europa am besten in den westlichen Staaten entwickelt 
worden. Hier vereinigten sich Landübertragung und Treueid im Bereiche verhältnismässig kleiner 
Herrschaften zu einer teilweise überaus wohlgegliederten, architektonisch von unten her das Ganze 
bis oben hin umfassenden Form, sodass wenigstens in der Rechtstheorie der Satz ‚nulle terre sans 
seigneur“ ausgebildet werden konnte. Tritt damit hier der mittelalterliche Staat in vollendeter 
Form auf, so ist dafür wohl vor allem die Kleinheit der Staatswesen, die sich bildeten, von Bedeutung 
gewesen. Mit der Lehensverwaltung lassen sich weit ausgedehnte Territorien nur sehr schwer be- 
herrschen, denn die für eine solche Herrschaft notwendigen Verkehrsmittel und namentlich die 
Regelmässigkeit der Wirksamkeit solcher Mittel ist naturalwirtschaftlichen Zeiten im allgemeinen 
versagt. Mit dieser regulären und glücklichen Fortbildung der mittelalterlichen Staatsform hängt 
es zusammen, dass die westlichen Staaten Europas denn auch einen sehr ruhigen und glücklichen 
Übergang zu der absoluten Monarchie des 15.—18. Jahrhunderts erlebt haben. Der absolute Staat 
dieser Zeit stellt sich zu dem Lehensstaat nicht anders als der urzeitliche Absolutismus zu der ihm 
vorhergehenden Demokratie. Er ist in gewissem Sinne eine Fortbildung, insofern nämlich die 
neuen politischen Motive, denen er verdankt wird, aus dem älteren Staatswesen, ohne dass dieses 
ganz zerstört wird, organisch hervorwachsen und eigentlich nur einer stärker eintretenden Indi- 
vidualisierung der einmal vorhandenen Kultur verdankt werden. Im 14. und 15. Jahrhundert 
ist allerdings diese Individualisierung sehr beträchtlich gewesen, und es ist bekannt, wie in dieser 
Zeit langsam die Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft abgelöst zu werden beginnt, und wie 
schon vor diesem Prozesse sich die Entwicklung zwischen agrarisch arm und agrarisch reich in der 
Durchbildung der Grundherrschaft des 13. und I4. Jahrhunderts herausgestellt hatte. Diese starken 
Motive des Wirtschaftslebens reflektieren dann in dem höheren Geistesleben in dem, was man 
wohl als Individualısmus der neuen Zeit gegenüber der sogenannten Gebundenheit des Mittelalters 
zu bezeichnen pfle:t. Inwiefern damit der Übergang zur absoluten Monarchie verknüpft ist, 
wird weiter unten geschildert werden. 
In Deutschland ist der Verlauf der lehensstaatlichen Periode kein so normaler gewesen, 
wie im westlichen Europa. Anfangs allerdings, im 8. bis 10. Jahrhundert, schien der Lehensstaat 
zerade in Deutschland besonders kräftig entwickelt zu sein. Im Grunde aber handelte es sich dabei 
mehr um eine Fortdauer des urzeitlichen Absolutismus, der durch die Idee des Kaisertums noch 
einmal besonders befruchtet wurde, und eine Indienststellung des Lehensgedankens in die her- 
kömmlichen Verwaltungsgleise dieses Absolutismus, als um eine klare rasch zu völlig bestimmter 
Auffassung führende Durchbildung des Lehenswesens. Unter diesen Umständen stellte sich nach- 
hier, im 12. und 13. Jahrhundert, heraus, dass die nun nicht mehr aufzuhaltende Durchführung des 
Lehensstautes den alten Absolutismus allerdings zu zerstören imstande war. nicht aber die Kraft
	        
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