W. von Blume, Bedeutung und Aufgaben der Parlamonte. Parteibildung. 375
und Friedrich der Grosse, sich durchaus als Repräsentanten ihres Staates, ja als dessen
Beamte bezeichnet. Folglich ist es staatsrechtlich unmöglich, einen Gegensatz zwischen
„Regierung“ und „Volksvertretung“ zu konstruieren.
Und doch lebt ein solcher Gegensatz im Volksbewusstsein. Nur handelt es sich dabei
nicht um die staatsrechtliche Stellung, sondern um die Bestellung des Parlamentes. Ueberall
geht es, ganz oder wenigstens zum Teil, aus Wahlen hervor. Durch die Wahl bringt der
wahlberechtigte Teil des „Volkes“, d. h. der jeweils vorhandenen Menge der Staatsbürger,
seinen Willen zum Ausdruck. Die Zusammensetzung des Parlaments ist Ausdruck des
„Volkswillens“, richtiger des Willens der Wählerschaft, so wie er sich in einem bestimmten
Augenblick gestaltet hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Parlament allerdings
scharf von jeder Regierung, die nicht aus Volkswahlen hervorgeht, mag sie nun Monarchie
oder was immer sonst sein (Wo aber, wie in den Vereinigten Staaten, auch der Präsident
durch das Volk gewählt wird, da beruht der Unterschied der beiden Arten der „Repr&-
sentanten“ lediglich auf ihrer staatsrechtlichen Aufgabe.) „Volksvertretung“ soll also so-
viel heissen wie „vom Volke bestellte Vertretung des Staates“. Man hat dies (so Jellinek,
Allgemeine Staatslehre) auf die Weise staatsrechtlich verwerten wollen, dass man sagte, das
Parlament sei nur sekundäres Organ des Staates, primäres sei das Volk, das sich des
Parlamentes als eines Organs bediene. Aber hierbei wird doch wohl verkannt, dass es im
staatsrechtlichen Sinne eben nicht das Volk, sondern die Wählerschaft ist, die das Parlament
bestellt und dass nicht die Handlungen des Parlamentes. sondern seine Mitglieder durch die
Wahl bestimmt werden.
Macht man mit dem Gedanken, dass das Parlament das Volk vertrete, Ernst, so kommt
man notwendig zum „imperativen Mandat“, d. h. zu der Forderung, dass der gewählte
Parlamentarier seine Handlungen nach den Weisungen richte, die seine Wählerschaft bei der
Wahl oder nach der Wahl ihm erteilte. Einen solchen gebundenen Auftrag hatte der land-
ständische Abgeordnete, der einen Verband, eine Gemeinde durch Wahrnehmung ihrer
Interessen in der Ständeversammlung zu vertreten hatte. Die Beseitigung des imperativen
Mandates bedeutete daher in der englischen Parlamentsgeschiehte ein unfehlbares Zeichen
dafür, dass sich das Parlament aus einer ständischen Vertretung zu einem Organ des eng-
liscben Staates ausgewachsen hatte. In der deutschen Verfassung aber bezeichnet die
Gebundenheit der Bundesrats-Bevollmächtigten das föderative, die Entschlussfreiheit der
Reichstagsabgeordneten das unitarische Wesen der Staatseinrichtung. Nicht den Willen der
Wählerschaft, sondern den Staatswillen bringt das Parlament durch seine Beschlüsse zum
Ausdruck. „Les membres de l’assembl&e nationale“ heisst es in der französischen Verfassung
von 1848 (Art. 34) „sont repr&sentants de la France entiere.“ Auch mögen zum Belege die
prächtigen Worte dienen, mit denen die Stein’sche Städteordnung in $ 110 Abs. 2 den
Stadıverordneten ihre Stellung bezeichnet:
„Das Gesetz und die Wahl sind ihre Vollmacht, ihre Ueberzeugung und
ihre Ansicht vom gemeinen Besten der Stadt ihre Instruktion, ihr Gewissen aber
die Behörde, der sie deshalb Rechenschaft abzulegen haben. Sie sind im vollsten
Sinne Vertreter der ganzen Bürgerschaft, mithin so wenig Vertreter des einzelnen
Bezirkes, der sie gewählt hat, noch einer Korporation, Zunft usw., zu der sie
zufällig gehören.”
Die beiden Gedanken: „Der Wille der Wählerschaft kommt in der
Bestellung der Parlamentsmitglieder zum Ausdruck“ und: „Das Par-
lament bringt den Willen des organisierten Volkes, d.h. des Staates,
zum Ausdruck“ machen zusammen die „parlamentarische Idee“ aus.
„Der eine Bestandteil der Freiheit ist, abwechselnd zu regieren und regiert zu werden,
der andere: zu leben nach eigenem Belieben.“ Das Parlament ist bestimmt, den ersten der
beiden Aristotelischen Bestandteile der Freiheit zu verwirklichen. Es ist eine Form der
Selbstregierung der Regierten. Woeine unmittelbare Teilnahme der Regierten
an der Regierung wegen der Grösse des Staatswesens unmöglich ist, da bleibt nur übrig