Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

W. von Blume, Bodeutung und Aufgaben der Parlamente. Parteibildung. 381 
Europa wenigstens, noch sehr weit entfernt — wird das Parlament entweder, wie ehedem 
in England, aus den führenden Schichten des Volkes entnommen werden müssen, oder es 
wird die Kollegialität der Parlamentarier und damit die Würde der Verhandlung durch ihre 
esellschaftliche Verschiedenheit ungünstig beeinflusst werden. Man mag das beklagen, aber 
darf nicht meinen, durch Aenderungen in der Geschäftsordnung in dieser Hinsicht eine 
wesentliche Besserung zu erzielen. Fehlt es somit dem demokratisch gewählten Parlament 
an dem erforderlichen demokratischen Unterbau des sozialen Lebens, so fehlt andererseits 
der Menge die erforderliche politische Einsicht, um das aristokratische Element, das dem 
parlamentarischen Gedanken innewohnt, genügend zu berücksichtigen. Der Idee nach sollen 
die vom Volke gewählten Abgeordneten „Auserwählte” des Volkes sein, Führer im öffent- 
lichen Leben mit Führer-Eigenschaften. Aber die Wahl trägt dem häufig genug keine 
Rechnung und keine Art der Gestaltung des Wahlrechts, keine Beschränkung der Abstufung 
kann eine Sicherheit für die politische Reife des Urteils geben. So entstehen Widersprüche 
zwischen Ides und Wirklichkeit, die um so stärker empfunden werden, je stärker die Idee 
betont wird. 
Man wirft den Parlamenten „Unfleiss“ vor und sucht dem zu begegnen durch Ge- 
währung von Diäten und anderen Vorteilen für parlamentarische Tätigkeit. Jedoch dürften 
dabei die Symptome mit den Ursachen verwechselt werden und, ob die Bewilligung von 
Diäten oder gar von Anwesenheitsgeldern gerade zur Hebung des Ansehens des Parlaments 
das geeignete Mittel ist, darf billig bezweifelt werden, wenn sie auch aus anderen Gründen 
unvermeidlich sein mag. Als Ursache der Erscheinungen, die man „Unfleiss“ nennt, kommen 
hauptsächlich zwei Umstände in Betracht: 
Zunächst die schon besprochene Entwicklung des Zeitungswesens. Publikum, 
Regierung und, nicht zuletzt, die Parlamentarier selbst benutzen die Tageszeitungen und 
Wochenschriften als Sprachrohr. Damit werden viele der im Parlament gehaltenen Reden 
überflüssig; sie werden nichtsdestoweniger gehalten, aber nicht gehört, sondern gelesen — in 
der Zeitung. Die Tätigkeit des parlamentarischen Plenums wird zur Zeitvergeudung, die 
Arbeit in den Kommissionen aber wächst, ohne doch für das Ansehen des Parlamentes in 
die Wagschale zu fallen. 
Hierzu kommt, dass die Aufgaben des Parlamentes und die Leistungsfähigkeit seiner 
Mitglieder je länger je mehr auseinander gehen. Je mehr Gebiete des bürgerlichen Lebens 
der Staat in seine Einflusssphäre zieht, je schärfer die Gegensätze der sozialen Gliederung 
des Volkes hervortreten, je tiefer die Probleme des Volkslebens von der Wissenschaft erfasst 
werden, um so zahlreicher und um so schwieriger werden die Aufgaben, vor die der Staat 
und somit das Parlament gestellt wird. Der Einfluss, den das Parlament verfassungsmässig 
auf ihre Erledigung hat, beschränkt sich zwar auf die Teilnahme an der Gesetzgebung. 
Aber gerade diese fordert je länger je mehr ein gewisses verwaltungstechnisches, volks- 
wirtschaftliches und juristisches Wissen und Können. Je breiter nun die Volksschichten 
sind, aus denen das Parlament entnommen wird, desto geringer ist unter den sonstigen 
gesellschaftlichen Verhältnissen die Zahl derer, die zu gesetzgeberischer Tätigkeit befähigt 
sind. Zwar können Laien in der Gesetzgebung, wie in der Rechtsprechung erfolgreich 
wirken, wenn sie mit dem Berufs-Beamten zusammenarbeiten. Indessen weist die Konstruktion 
des Parlamentarismus denselben Fehler auf wie die der Geschworenengerichte: sie isoliert 
die Tätiekeit der Laien von der der Beamten, die das Gesetz oder den Spruch vor- 
zubereiten haben. 
Um so ungünstiger wirkt, dass, wie schon oben berührt wurde, fast überall das Parlament 
einer staatsrechtlichen Schrulle zuliebe auf dieGesetzgebung beschränkt und von der Verwaltung 
ausgeschlossen worden ist, somit also die Wirkung der von ihm erlassenen Befehle nicht aus 
eigener Anschauung kennen lernt, wenigstens nicht von massgeblicherStelle aus. Hier dürfte ein 
weiterer Fehler der Gestaltung des parlamentarischen Lebens, zumal in Deutschland, blossgelegt 
sein. Wer den wohltätigen Einfluss erkennen will, den die Verbindung von gesetzgebender und 
verwaltender Tätigkeit auf die Wirksanıkeit des Laien-Elements ausübt, der betrachte die
	        
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