386 Wolfgang Michael, Geschichte des Parlamentarismus in England.
Für das Kabinet: W.M.Torrens, History of Cabinets (1688—1760), Lond. 1894; Blauvelt,
The Development of Cabinet Government in England, New York 1902; E. Jenks, Parliamentary England. The
evolution of the Cabinet System, Lond. 1903; W, Michael. Die Entstehung der Kabinettsregierung in
England (Zeitschr. f. Politik, VI. 4. 1913),
Seit den Tagen Voltaires u. Montesquieus hat England als das Musterland des Parlamen-
tarismus gegolten. Seine Institutionen sind von allen zivilisierten Staaten, so wie sie für einen jeden
am besten zu passen schienen, nachgeahmt worden, oder sie haben doch als das grosse Vergleichs-
objekt allen vor Augen gestanden. Zweikammersystem, gewählte Volksvertretung, die Rechte der
Steuerbewilligung, der Gesetzgebung, der Kontrolle der Verwaltung sind heute bei fast allen Kultur-
nationen heimisch geworden.
Was aber Englands parlamentarische Institutionen vor allen übrigen voraushaben, das ist
die Würde, die eine vielhundertjährige Geschichte ihnen verleiht. Denn hıer und hier allein sind sie
organisch entstanden, sind sie mit der Nation gross geworden und sind in jeder Gestalt der Aus-
druck der politischen Anschauungen ihrer Epoche gewesen.
In der angelsächsischen Landesversammlung oder dem witenagemöt wird man einen Vorläufer
des englischen Parlaments kaum erblicken können. \cder hat man es in dieser Versammlung der
Grossen mit einer gewählten Volkvertretung, noch mit einem festen Kreise von Geburtsaristokraten
zu tun. Es gibt ebensowenig einen bestimmten Geschäftskreis wie eine Regel für die Häufigkeit oder
auch nur dıe Notwendigkeit der Berufung. Wer dennoch von einer Übereinstimmung mit parla-
mentarischen Institutionen reden möchte, wird sie in der hier schon vorhandenen Verwirklichung
des germanischen Gedankens finden, die grossen Angelegenheiten der Gesamtheit nicht der Ent-
scheidung deseinen, dem man als dem Könige gehorcht, allein zu überlassen, sondern einen Kreis
von Volksgenossen zur Mitwirkung heranzuziehen.
Mit der normännischen Eroberung (1066) sinkt der angelsächsische Staat in Trümmer und
auch die alte Rolle des witenagem.öt ist ausgespielt. Der Eroberer errichtet jenen anglo-norman-
nischen Lehnstaat, in welchem neben den abgestuften Abhängigkeiten der Lehnsträger, wie sie auf
dem Festlarde bestanden und in dem Bilde der Lehnspyramıde charakterisiert zu werden pflegen,
noch die dırekte Abhängigkeit aller vom Könige, dum sıe 1086 alle huldigen, zum Grundsatz erhoben
wird. Die der Krone damit gegebene Möglichkeit eıner durchgreifer:den Herrschaft, der Verfügung
über die gesamte Wehr- und Fınanzkrait dıs Lar.des, begrün.dete auf hur.dert Jahre hinaus einen
Zustar.d absoluter Rıgierung, innerLaib welcher für eine Körperschaft mit parlamentarischen
Rechten urd Funktionen keın kaum war. Die Hoftage, welche der König nunmehr zu berufen
pflegt, können allenfalls als Fortsetzung der angelsächsischen Witenagen.öte erscheinen, haben aber
keine regelmässige Beschlussfassung, also auch nicht ein Recht aufGesetzgebung, Steuerbewil.igung
oder eine ar.dere Seite parlamentar.scher Betätigung. Erst ein Jahrliundert nach der Eroberung
wurden unter Heinrich 11., dem ersten Plantagenet, wieder Versammlungen der Grossen des Reiches
berufen, welche Beschlüsse — die sogenannten Assisen — fassen, wenn auch ohne jede feste Regel.
Unter seinem Sohne Johann ohne Land entstand sodann die Magna Clıarta. Es war ein zwischen
dem Könige und den rebellierenden grossen Baronen geschlossener Vertrag, aus dessen reichem und
mannigfachem Inhalt hier nur das eine hervorgehoben sein mag, dass darin von zweiSteuergattungen,
dem Hilfsgeld (auxilium) und dem Schildyeld (scutagium) gesagt wird, der König solle sie im allge-
meinen nicht anders als nach erfolgter Zustimmung einer allgemeinen Reichsversammlung erheben
dürfen. Zu dieser Reichsversammlung (Commune consilium regni) sollen die Prälaten und die grös-
seren weltlichen Barone durch königliches Schreiben persönlich berufen werden, die kleineren durch
kollektive Ladung von seiten der Sheriffs. Auf Grund dieser Verschiedenheit der Ladung von zwei
verschiedenen Körperschaften wie Oberhaus und Unterhaus reden zu wollen, wäre zwar verfehlt,
aber die Bedeutung dieser Anordnungen, insbesondere des feierlich verkündeten Prinzips der Steuer-
bewilligung, ist für die Geschichte der parlamentarischen Institutionen in England darum nicht
geringer. Die Magna Charta ist bis zum Ende des Mittelalters nicht weniger als 38 mal bestätigt
worden. Sie ist Anstoss und lichtschnur der ferneren Entwicklung geworden, wenigstens in
dem Sinne, als sich die oberen Stände für sich wie für andere Volksklassen gegenüber der
monarchischen Gewalt ihr Selbstbestimmungsrecht nicht mehr nehmen liessen. Dasselbe 13. Jahr-