Wolfgang Michael, Geschichte des Parlamentarismus in England. 387
hundert, dem schon die Magna Charta angehört, hat auch das Parlament in seiner späteren Zu-
sammensetzung entstehen sehen.
ZudenBaronen, d.h. den hohenAdligen, welche zu beratenden, beschliessenden und bewilligen-
den Versammlungen seit langem berufen zu werden pflegten, treten schrittweise die Elemente
hinzu, welche nachmals das Unterhaus gebildet haben. 1213, also zwei Jahre vor der Magna Charta,
wurden zu einer grossen Versammlung neben den Baronen vier „kluge Leute‘ aus jeder Grafschaft
als Vertreter derselben entboten. 1254 führt das Geldbedürfnis der Krone zu der Anordnung, dass
zu einer in Westminster abgehaltenen Versammlung, ausser dem hohen Adel, je zwei Ritter aus den
Grafschaften erscheinen sollen, um dem Könige die nötigen Geldbewilligungen zu machen. Aus-
drücklich wird vorgeschrieben, dass die Ritter durch Wahl von seiten der Grafschaft zu ernennen
sind. Wie hier die Vertreter des flachen Landes, so kommen ferner 1265 Abgeordnete der Städte hin-
zu. Zwar handelt es sich dieses Mal um ein von deın siegreichen Führer der Revolution Simon von
Montfert berufenes Parlament. 30 Jahre nachher aber, 1295 beruft König Eduard I. das sogenannte
Musterparlament, in dem alle die genannten Gruppen, nämlich hoher Adel und hohe Geistlichkeit,
je 2 Ritter aus allen Grafschaften und je 2 Abgeordnete aus den Städten sich zusammenfinden,
womit nun die normale Zusammensetzung der Parlamente für die Folgezeit gegeben ist. Dass so-
wohl in bezug auf dieGrafschaftsvertreter wie auf dieStädteabgeordneten eine Anknüpfung an Organe
der lokalen Selbstverwaltung vorliegt, welche jetzt zur politischen Vertretung des Landes herange-
zogen werden, mag nur beiläufig erwähnt sein. Hier kommt es vor allem auf die Tatsache an, dass
durch diese Entwicklung das Parlament zu einer Vertretung des gesamten Volkes geworden ist.
Zugleich tritt jetzt der Unterschied hervor zwischen denjenigen, welche aus eigenem persönlichen
Rechte, die Geistlichen durch ihr Amt, die hohen Adligen durch ihre Geburt, dem Parlamente an-
gehören und den Vertretern der Grafschaften und Städte, welche als die gewählten Repräsentanten
des Volkes erscheinen. Jene schliessen sich später im Oberhause oder dem Hause der Lords zusam-
men, diese im Unterhause oder dem Haus der Gemeinen. Diese Zweiteilung ist freilich erst allmäh-
lich erfolgt, sie ist erst unter Eduard III., also im 14. Jahrhundert, zur festen Regel geworden. Auch
ist sie nicht etwa um des Prinzips des Zweikammersystems willen gewählt worden, dessen Vorzüge
noch von niemandem geahnt wurden und sich erst im Lauf der historischen Entwicklung des eng-
lischen Parlamentarismus der \Welt offenbart haben.
Die Frage ist natürlich, woher die Mitglieder des Unterhauses das Verständnis, wir würden
sagen, die politische Reife zur Lösung der ihnen obliegenden Aufgaben schöpften. Bei der Steuer-
bewilligung, welche vorläufig die Hauptsache blieb, kam es auf ein richtiges Urteil über die Bedürf-
nisse der Regierung auf der einen und die Steuerkraft des Landes auf der anderen Seite an. Bald
kam aber noch ein gewisser Einfluss auf den Gang der Regierung hinzu. welchen die Kommunen
in der Form von Petitionen ausübten, von deren Annahme seitens des Königs sie die Steuerbe-
willigung abhängig zu machen pflegten. Aus dem Recht, Petitionen zu überreichen, entwickelte
sich aber der regelmässige Anteil des Unterbauses an der Gesetzgebung. Dass nun die Vertreter der
Grafschaften und die Städteabgeordneten diesen hohen Aufgaben gewachsen waren, verdankte
man den Erfahrungen, welche sie, wie schon erwähnt, im Kreise der lokalen Verwaltung gewonnen
hatten. So wurde die altberühmte englische Selbstverwaltung, das „selfgovernment“, die Vor-
schule des englischen Parlamentarismus.
Zusammensetzung und Wirkungskreis des Parlaments haben im Lauf der folgenden Jahr-
hunderte weit weniger gewechselt als seine tatsächliche Macht. In der ersten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts war diese Macht bedeutend genug; sie hatte ihren Grund darin, dass das durch Usurpation
emporgekommene Haus Lancaster am Paılamente seine beste Stütze besass. In der Zeit der Rosen-
kriege sank es herab zum \Verkzeug der durch den Sieg auf dem Schlachtfelde jeweils zur Herrschaft
gelangten Dynastie. Noch geringer war seine Bedeutung in der Epoche der Tudors. Die Könige
und Königinnen aus diesem Hause haben, gestützt auf das Vertrauen, welches das Volk ihnen entgegen-
trug, fast absolut regiert. Sie haben zudem die Kunst besessen. sich ausserparlamentarische Ein-
nahmen in solcher Höhe zu verschaffen, dass sie, von dringenden Fällen abgesehen, der Bewiili zungen
des Parlaments entraten konnten. So war im 16. Jahrhundert die Monarchie und nicht das Parlament
der führende Faktor im Staatsleben. Dieses folgt gleichsam von fern den grossen Bewegungen im
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