Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

398 Adalbert Wahl, Geschichte des Parlamentarismus in Frankreich. 
sämtlich Monarchisten, darunter die Mehrzahl Orleanisten, etwa 100 Legitimisten und nur 30 Bona- 
partisten. Die Versammlung wählte zum Chef der Exekutive und später zum Präsidenten 
Thiers, der, ursprünglich Orleanist, bald mehr und mehr zur Republik neigen solite; auf 
ihn folgte im Jahre 1873 Mac Mahon. Im März 1871 verlegte die Versammlung ihren Sitz nach 
Versnilles. Nach der Niederwerfung des Kommuneaufstandes und dem Abschluss des Friedens 
ging die Versammlung endlich an die Herstellung einer Verfassung. Die erste Frage, die zu regeln 
war, war die nach dem Oberhaupt. Nachdem der orl&anistische Kandidat, der Graf von Paris, 
seinen Willen kundgetan, zu Gunsten Heinrich’s V., Grafen von Chambord, des nachgeborenen 
Sohnes des 1820 ermordeten Herzogs von Berry, zu verzichten, zerschlugen sich die Hoffnungen der 
Monarchisten infolge der intransigenten Haltung dieses letzten legitimen Bourbonen von der 
Hauptlinie (Oktober 1873). So kam es, dass schliesslich die monarchische Versammlung eine repu- 
blikanische Verfassung gab (Urkunden vom 24. Februar, 25. Februar und 16. Juli 1875). An der 
Spitze des Staats steht ein auf 7 Jahre gewählter Präsident, dem die Verfassung sehr bedeutende 
Befugnisse eingeräumt hat, während allerdings die Inhaber des Amtes es trotzdem bis zur heutigen 
Stunde nicht verstanden haben, einen erheblichen Einfluss auf die innere oder auswärtige Politik 
auszuüben. Frankreich bietet vielmebr das Bild einer eigentlichen Parlamentsherrschaft, die von 
2 Kammern ausgeübt wird. Die Kammer der Abgeordneten (738 Mitglieder) wird nach allgemeinem 
gleichem, direktem Wahlrecht gewählt; der Senat — und zwar seit 1884 sämtliche 300 Mitgiieder — 
nach einem sehr stark beschränkten Wahlrecht: das aktive Wahlrecht zum Senat besitzen die 
Deputierten, die Generalräte, die Arrondissements-Räte und je ein Vertreter jedes Munizipalrats 
des Departements. Seit den Wahlen des Jahres 1877 sind die Monarchisten in der Minderheit. 
Charakteristisch für den modernen französischen Parlamentarismus ist eine ausserordentlich rege 
Parteibildung. Die Rechte wird gebildet durch Klerikale und Nationalisten (Monarchisten), die 
Mitteu.A. durch die Progressisten (so genannt seit 1898, gemässigte Republikaner), die Radikalen und 
die Radikalsozialisten, d. h. Sozialisten, welche ihre Ziele ohne Revolution zu erreichen streben und 
überhaupt die Erreichung dieser Ziele zurückzustellen bereit sind ; die Linke durch Sozialisten, welche 
ihrerseits wieder in zwei Hauptgruppen, die „unifizierten‘ und die,, unabhängigen‘, auseinander- 
fallen. Seit geraumer Zeit wirken diese auch positiv an der gescetzgeberischen Arbeit mit und die 
unabhängige Gruppe stellt sogar Minister. Die Zersplitterung des Parlaments in allzu viele Par- 
teien brachte es bei dem streng parlamentarischen Regierungssystem von Anfang an mit sich, dass 
die Ministerien ungeheuer häufig wechselten. So wurde jede Stetigkeit auch der inneren Politik 
unmöglich gemacht, vor allem aber die rationelle Führung der auswärtigen Politik sehr erschwert. 
Zwei derartige Ministerstürze, welche mindestens z. T. auf unbedeutende Parteiverhältnisse zurück- 
zuführen waren, haben seiner Zeit für Frankreich den Verlust des seit zwei Jahrhunderten erstrebten 
Ärypten herbeigeführt. In der letzten Zeit sind beide Übelstände zwar nicht behoben, wohl aber 
gemildert worden: es ist einerseits Sitte geworden, dass der Minister des Auswärtigen nicht mit 
jedem Ministerium stürzt; anderseits hat die Blockbildung unter den Parteien der Linken und der 
Mitte für die ihnen entnommenen Ministerien eine gewisse Stabilität herbeigeführt.
	        
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