406 Theobald Ziegler, Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland.
durchsetzte. dass dieser in der Thronrede Indemnität begehrte für die ohne gesetzliche Unterlage ge-
bliebene Finanzverwaltung der letzten vier Jahre, wie sie durch die Durchführung der Heeresreform
nötig geworden war. Das sei keine Demütigung, meinte er, sondern ein nachträgliches Aner-
kennenlassen der Gründe der Regierung und ihrer Stichhaltigkeit. Am 3. September nahm das Ab-
geordnetenhaus die Indemnität mit 230 gegen 75 Stimmen an, das Herrenbaus folgte, wenn auch
etwas bend, daesdieselbenicht für notwendig bielt. Damit warder Friedezwischen Regierung
und Parlament, zwischen dem König und seinem Volk, zwischen Bismarck und der öffentlichen
Meinung wiederhergestellt. Die Liberalen aber, die den Frieden mitmachten, und die Mitglieder des
Nationalvereins aus den annektierten Provinzen schlossen sich zu einer neuen Partei, der national-
liberalen zusammen und wurden nun eine Zeitlang die Träger der parlamentarischen Arbeit erst
im norddeutschen. dann seit 1871 ım deutschen Reichstag.
Auf eine höhere Stufe erhob sich der deutsche Parlamentarismus, als endlich die Sehnsucht
des Volkes gestillt und eine Gesamtvertretung auf breitester Basis gewählt nach dem allgemeinen,
gleichen und direkten Wahlrecht eingeführt wurde: zunächst vier Jahre lang für die im nord-
deutschen Bunde geeinigten Staaten, aber schon 1868 für Zollsachen wenigstens zu einem allgemein
deutschen Zollparlament erweitert, und endlich seit Gründung des deutschen Reichs im Jahr
1871 für alle in diesem zur Einheit zusammengeschlossenen Staaten als deutscher Reichstag
neben dem Bundesrat als dem obersten Regierungsoigan des Reichs. Jenen Modus des allgemeinen,
gleichen und direkten Wahlrechts hatte Bismarck in den Zeiten des Konflikts in Preussen in der
Meinung in sein Programm aufgenommen, dass er damit eine konservative Volksvertretung be-
kommen werde, nachdem der aus indirekten Wahlen hervorgegangene preussische Landtag ihm
jahrelang eine fortschrittliche Opposition gebracht und gemacht hatte. Dass sich Bismarck darin
getäuscht hat, hat die Geschichte der letzten vierzig Jahre gelehrt. Die Schöpfung des unorganischen,
nach konfessionellen Rücksichten sich orientierenden Zentrums und die unter der Wandlung der
wirtschaftlichen Verhältnisse sich vollziehende Bildung einer vom bürgerlichen Liberalismus getrenn-
ten und rasch mächtig und machtvoll heranwachsenden sozialdemokratischen Partei liessen sich
in den sechziger Jahren noch nicht voraussehen. Nicht getäuscht aber hat sich Bismarck im ersten
Jahrzebnt des Reichstagsbestehens in der Erwartung, dass eine vom Willen des ganzen Volkes ge-
tragene Vertretung auch eine Elite desselben darstellen und an Arbeitsleistung und Geistentfaltung
ihr bestes tun werde. Abgesehen von der exzeptionellen Eintagsversammlung in der Paulskirche
stand nie eine Volksvertretung in Deutschland geistig höher und war nie eine in fruchtbarer Arbeit
leistungsfähiger als der deutsche Reichstag in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die
wichtigen Gesetze zur Konstituierung des Reichs, soweit sie nicht schon im Reichstag des nord-
deutschen Bundes oder gar in der Verfassung des Frankfurter Parlaments vorbereitet oder fertig ge-
stellt waren, sind in dieser Periode durchberaten und verabschiedet, worden. Und in den Kultur-
kampfdebatten wurden die grossen Gegensätze zwischen Staat und Kirche von Freund und Feind
mit bemerkenswerter Sachkenntnis und erfreulicher prinzipieller Vertiefung gegen einander ins
Feld geführt, mehr als einmal schärften sich die Verhandlungen zu wahrhaft dramatischen Kon-
flikten zu. Freilich erstarkte im Gegensatz zu den Nationalliberalen, die damals die eigentlichen
Stützen und Träger der Bismarckschen Politik waren, auch die Gegnerschaft des Zentrums, das immer
mehr zu der wichtigsten Partei und zu einem unerschütterlichen Turm heranwuchs. Auch der Über-
gang der Wirtschaftspolitik vom Freihandel zum Schutzzoll und der Erlass eines Gesetzes gegen die
gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie fallen noch in diese Periode. Aberdamit be-
gannauchdergrosse Umschwung in der inneren Politik, der durch den Abbruch des Kulturkampfes und
den allmählichen Verzicht auf die Falksche Maigesetzgebung charakterisiert wird; dasZentrum hörte
auf „Reichsfeind“ zu sein; später hiess es sogar: Zentrum ist Trumpf, und an die Stelle der National-
liberalen traten die Konservativen als eigentliche Regierungspartei. Diesen Vorgängen im Reich
gegenüber verloren die Einzellandtage natürlich an Bedeutung und Interesse, soweit nicht der preus-
sische im Kulturkampf dem Reichstag sekundierend zur Seite trat. Auch die gelegentliche Drohung
Bismarcks, ihn gegen den Reichstag auszuspielen, änderte daran nichts; sie zeigte nur, dass das alte
Problem vom Verhältnis zwischen Deutschland und Preussen nach wie vor ungelöst im Hintergrund
geblieben war. Daraus versteht man vielleicht auch, warum sich Bismarck immer wieder der libe-