414 Friedrich Tezner, Entwicklung des Parlamentarismns in Österreich-Ungarn.
Oktober 1871 beschlossenen Fundamentalartikel, noch die Einführung der
direkten Wahlen in den Reichsrat an Stelle jener durch die Landtage mittels
der Wahlreform vom 2. April 1873, noch endlich, die fortschreitende, durch die Wahlreform vom
36. Jänner 1907 bis zum allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts
geführte Demokratisierung des Wahlrechts aufzuhalten vermocht hat.
er Grund für diese ungünstige Entwicklung ist ebensowohl in den Hemmungen zu erblicken,
die der parlamentarische Dualismus einer naturgemässen Ausbildung des Kon-
stitutionalismus in beiden Ländergruppen der Monarchie bereitet, als auch darin, dass der
nationale Gegensatz zwischen Deutschen, Slaven und Romanen, der Gegensatz zwischen dem ma-
gyarischen Nationalstaat und der Bewegung zur Anerkennung der Gleichberechtigung aller Natio-
nalitäten der Monarchie alle anderen parteipolitischen Gegensätze in den Hintergrund drängt.
So müssen die Regierungen bei der Lösung staatlicher Kardinalfragen diesachlichsten Er-
wägungen der Forderung der Sicherung der Majorität für die von ihnen mühsam hergestellten Ent-
würfe der periodisch zu erzeuernden Auseinandersetzung beider Ländergruppen über ihre vitalsten
Interessen opfern, bei denen die unsterblichen staatsrechtlichen Gravamina aus dem Titel des magy-
arischen Nationalstaates eine grosse Rolle spielen, während die politischen Parteien ihre Stellung
zu jeder beliebigen Frage darnach einrichten, welche nationale Konzessionen sie für
eine gouvern mntale Haltung zu gewärtigen haben? Darum kann sich eine auf das Ganze
gerichtete Politik, die — sie sei gut oder schlecht — Voraussetzung eines wahrhaften Konstitu-
tionali mus bild :t, nicht entwickeln und das politische Leben erhält einen peinlichen Zug von
Rleinlichkeit, Unaufrichtigkeit, Unzuverlässigkeit ur.d Schwäche sowohl d:r Regierungen als auch
der politischen Parteien, die sich im Besitze der erlangten Zugestär.dnisse gerne ihrer unsachlichen
Zusagen entlı digen möchten. Darum auch die wechselseitigen Vorwürfe unterlaufener Illoyalität.
Dazu kommt noch, dass das Zentralparlament inden Landtagen von Böhmen und Galizien, trotzdem
diesen die Zuständigkeit zur Gelter.dmachung der konstitutionellen Verantwortlichkeit der staat-
lichen Land :sregierungen abgeht, wenn sie funktionsfähig sind, seine Autorität beschränkende
Rivalen besitzt. Es kann nicht Wund»r nehmen, wenn staatliche Verwaltung und Selbstverwaltung
und Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber der Gesetzgebung, die aus Kompromissen mit politischen
Eintagskombinationen hervorgeht, ihre eigenen Wege gehen, um nicht blosse Schergen
des krassesten Egoismus und der hinterhältigsten Partcipolitik zu sein, die sich in einem Momente
zufällig in der Form der Gesetzgebung durchgesetzt hat. Gegenüber den unleugbaren Talenten,
die alle Nationen der Monarchie zu Beginn der konstitutionellen Epoche für den parlamentarischen
Dienst beigestellt haben, bietet uns die moderne parlamentarische Welt der Monarchie das Bild
eines die Vorfahren an wirtschaftlichen, historischen und sozialen Kenntnissen überragenden
aber politisch recht mittelmässigen Geschlechts, was bei dem Umstande, als
auch das aristokratisch-oligarchische ungarische Parlament im Gegensatz zu seiner ruhmvollen
Vergangenheit keine imponierende, grosszügige, mitreissende staatsmännische Persönlichkeit auf-
zuweisen vermag, mit der Demokratisierung des Wahlrechts nicht erklärt werden kann. Es muss
dahin gestellt bleiben, ob hier nicht politische Skepsis und Illusionsunfähigkeit eine grosse Rolle
spielten. Allenthalben bildet, die Obstruktion, die ädeste und mit dergeringsten
Geistesarbeit herzustellende Form der Opposition, dıs wichtigste parlamen-
tarische Kampfmittel und nagt an den Wurzeln des doch ohncedies kümmerlichen Konstitutiona-
Iismus. Das österreichische Abgeordnetenhaus gelangt vor lauter nationalen Debatten und Obstruk-
tionen nicht einmal zur ordnung: mässigen Wahrung seiner budgetären Befugnisse. Schon hat die
Krankheit der funktionellen Lälmung den böhmischen Landtag erfasst und bedroht auch den
galizischen. Alle diese Erscheinungen legen den Charakter der Monarchie als eines für eine wabrhaft
konstitutionelle Gestaltung wenig geeigneten, wesentlich monarchischen Gemeinwesens auf
Ob die Persönlichkeit des Monarchen gross oder klein ist, das funktionelle Element der monar-
chischen Gewalt füllt alle Lücken des Rechtes aus, die der blind wütende Kampf der Nationen
reisst oder die die Nationen, soweit sie von vornherein gegeben sind, von sich aus nicht auszufüllen
vermögen. Der Kaiser bat dm ungarischen Landtage die Auflage der Revision der 1848er unga-
rischen Verfassung gemacht, das von ihm genehmigte Revisionsergebnis als unüberschreitbare