Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Ein- oder Zweikammersystem? 4927 
  
Ablehnung des Budgets die Fassung gegeben hatte: diese Finanzvorlage müsse dem Volk zur Be- 
stätigung vorgelegt werden, ehe das Oberhaus ihr zustimmen könne. Aus dieser Wendung hat sich, 
in den Reden der Parteiführer deutlich verfolgbar, die Theorie gebildet, das Oberhaus habe die Auf- 
gabe, Überrumpelungen des Volks durch die Unterhausmehrheit und das Kabinett zu hindern. 
Lehne das Oberhaus eine im Unterhaus angenommene Vorlage ab, so geschehe das nur in der Mei- 
nung, dass die Regierung nun (beim jetzigen System durch Auflösung und allgemeine Wahl, künftig 
durch Referendum) das Volk solle befragen können (oder müssen); seinem Votum werde sich das 
Oberhaus fügen. Aus dieser Auffassung heraus ergibt sich ungezwungen das Referendum als eine 
Art der Lösung für den möglichen Konflikt zweier gleichgeordneter Kammern; der Unterschied 
und Fortschritt gegenüber der jetzigen Lage, in der aus dem Konflikt nur die Befragung der Wähler 
in allgemeinen Wahlen oder das höchst zweifelhafte Mittel des Pairsschubs herausführen kann, 
liegt darin, dass beim Referendum den Abstimmenden statt eines ganzen Parteiprogramms mit 
der Zutat lügnerischer Versprechungen und taktischer Winkelzüge eine klare Gesetzgebungsfrage 
zur Entscheidung vorgelegt wird und dass auch das Kabinett in die Lage kommt, sich vor einem ihm 
ungünstigen Volkswillen zu beugen und trotzdem die Geschäfte weiterzuführen, also sich wieder 
mehr als Diener dos Staats denn als seine Lenker zu fühlen; vor allem aber ist die Gewalt, mit der 
das Referendum auf die politische Erziehung der Staatsbürger drängt, zu seinen Gunsten ins Feld 
zu führen, zumal in einem Land, in dem die Menge im Politischen so unreif, so sehr der Phrase des 
Augenblicks hingegeben und der Massenbestechung zugänglich ist, wie in England. 
Indessen zeigt die englische Krise auch besonders deutlich, dass die Frage: Ein- oder Zwei- 
kammersystem ? überhaupt nicht absolut gestellt werden darf, sondern für jede Regierungsform 
ihre eigene Bedeutung hat. In der ungeheuren Fülle von Argumenten und Plänen, die dort während 
der letzten drei Jahre aufgetaucht, diskutiert worden und schliesslich zu Gunsten der Vetobill 
zurückgetreten sind, ist kein einziges zu finden, mit dem man auch nur vergleichsweise bei einer 
kontinentalen Verfassungskrise operieren könnte; sie waren durchweg so spezifisch englisch, wie 
die jetzige Regierungsform des Königreichs selbst es ist, von der zwar der Premierminister in einer 
Rede in Manchester am 6. Mai 1911 zu rühmen wusste, dass sie die Bewunderung und Nachahmung 
der ganzen Kulturwelt gefunden habe, die aber in Wirklichkeit genau so wenig irgendwo ausser- 
halb des englischen Reichs nachgeahmt worden ist oder nachgeahmt werden konnte, wie etwa die 
englische Gerichtsverfassung oder die englischen Universitäten des alten Stils. 
Die parlamentarische Regierungsform im heutigen England hängt mit dem Zweiparteiensystem 
unlösbar zusammen. Sie bedeutet praktisch ganz Verschiedenes für die Zeit bis zur vollendeten 
Bildung eines Kabinetts und für die Zeit der Führung der Geschäfte durch das gebildete Kabinett. 
Für jene Zeit der Bildung eines Kabinetts bedeutet sie die Herrschaft der Parteimitglieder, der Ab- 
geordneten und Agenten, der Wahlfondszeichner und bis zu einem gewissen Grad der Wähler selbst; 
die Partei wählt sich ihren Führer, hat es in der Hand, ihm zu folgen oder ihn zu zwingen, dass er 
ihr folgt oder abdankt; er muss sich seinen Stab, aus dem sich sein künftiges Kabinett bilden wird, 
nicht als eine Auslese der besten, sondern der einflussreichsten und in ihrer möglichen Missstim- 
mung gefährlichsten Abgeordneten wählen. Ist dagegen bei einer allgemeinen Wahl oder durch 
eine Mehrheitsverschiebung im Parlament die Partei dazu berufen worden, die Regierung zu stellen 
und dadurch ihr gewählter Führer zum Premierminister und sein Stab zu Kabinettsministern ge- 
worden, so bedeutet die parlamentarische Regierungsform die Herrschaft des Kabinetts über dio 
Partei wie über das Land, da es zur festen Gewohnheit geworden ist, dass das Kabinett jede wesent- 
liche Anderung seiner Vorlagen im Unterhaus als Misstrauensvotum und Anlass zur Resignation 
zu betrachten vorgibt, jedes Votum gegen die Regierungsvorlage auch nur in einem Spezialpunkt 
also für den Abstimmenden nicht nur den Verlust der Regierungs-Patronage bedeutet, (von der 
er zufälligerweise persönlich unabhängig sein kann) sondern die ziemlich sichere Aussicht auf den 
Verlust seines Mandats selbst, und jedenfalls die Notwendigkeit eines Wahlkampfs und der dazu 
nötigen Bearbeitung des Wahlkreises. Als selbständige Mächte im öffentlichen Wesen stehen dann 
dem Kabinett nur die Gerichte und die ständige Bureaukratie entgegen, die deshalb auch beide 
gerade in jüngster Zeit wegen vereinzelter Akte der Insubordination gegen die Politik des Kabinetts 
von den Anhängern des herrschenden Systems scharf angegriffen wurden; ausserdem mehren sich
	        
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