438 Hermann Rehm, Wahlrecht.
Wichtig ist bei der Klassenwahl noch, ob die Klassen den oder die Abgeordneten des
Wahlkreises gemeinschaftlich wählen, so dass zwei Wahlklassen, weil sie zwei Drittel Wahl-
kraft besitzen, die dritte überstimmen können, oder ob jede Klasse für sich einen Abgeord-
neten bestimmt. Im ersten Falle können die Wahlkreise einmännig, im letzteren Falle
müssen sie dreimännig sein. Das erste System begünstigt die Höchstbesteuerten. Es gilt
in Preussen (einmännige Wahlkreise. Das andere System mildert die plutokratische Natur
des Steuerklassen-Wahlrechts. Es gilt in Braunschweig und Schwarzburg.
Am augenfälligsten tritt die Ungleichheit des Steuerklsssensystems hervor, wenn man
sich vergegenwärtigt, wie der Zufall des Wohnsitzes und der Wohnung darüber entscheidet,
in welcher Abteilung einer wählt. In armen Bezirken ist Wähler erster Klasse, wer in
anderen in dritter Klasse stimmt.
XII. Mittelstaaten. In Bayern ist Wähler jeder 25 Jahre alte Bayer, der seit
windestens cinem Jahre a) die Staatsangehörigkeit besitzt, b) irgendwelche direkte Staats-
steuer (Minimum 50 Pfg) zahlt (Wahl-G. 1906 u. Einkommensteuer-G. 1910). Die Wahl-
kreise sind mehr ungleich als gleich. Nahezu drei Achtel der Abgeordneten (60 von 163)
werden nicht in ein-, sondern in zweimännigen Wahlkreisen (30 solche gegen 103 andere)
gewählt und dio grossen Städte haben grundsätzlich weniger Mandate als das Landgebiet.
Im Königreich Sachsen (Wahl-G. 1909) setzt das Stimmrecht voraus: Staatsangehörigkeit
seit mindestens zwei Jahren, direkte Staatssteuer, 25. Lebensjahr und männliches Geschlecht.
Möglich ist Steigerung des Stimmrechts bis zu vier Stimmen. Eine Ergänzungsstimme
erhält, wer 50 Jahre alt ist (Alterspluralität), soferne er nicht schon aus anderen Gründen
drei Zusatzstimmen hat. Die anderen Gründe sind Bildung (Einjährigen-Examen), Einkommen
und Grundbesitz je nach der Grösse eine oder zwei Ergänzungsstimmen. Baden verlangt:
a) männliches Geschlecht, b) Staatsangehörigheit seit mindestens zwei Jahren und Wohnsitz
im Lande im Zeitpunkt der Wahl, oder Wohnsitz und Staatsangehörigkeit seit einem Jahre
(Verfassung 1904, $ 34). Württemberg begnügt sich mit männlichem Geschlecht, 25
Lebensjahren und Besitz der Staatsangehörigkeit überhaupt (Verfassung G. 1906). Dagegen
haben Elsass-Lothringen (Wahlgesetz 1911) und Hessen (Landstände-Gesetz 1911)
die Einräumung des direkten Wahlrechts mit starken Wahlkautelen, in Hessen auch mit
Mehrstimmrecht belastet. In Hessen war das Wahlrecht bisher allgemein und gleich, jetzt
ist es weniger allgemein und ungleich. In Elsaes-Lothringen galt bisher schon allgemeines
und gleiches Wahlrecht, aber kautelenfreies, jetzt kautelenbelastetes. Im Reichslande sind
wahlberechtigt die männlichen Einwohner des Landes, die 1. reichsangehörig, 2. 25 Jahre
alt, 3. seit 3 (bei öffentlichem Amt 1) Jahren im Lande, 4. seit 1 Jahre in der Gemeinde
wohnhaft sind. Hessen verlangt männliches Geschlecht, 25 Jahre, Wohnsitz im Lande seit
drei, Staatsangehörigkeit seit einem Jahre, geringe direkte Staats- oder Gemeindesteuer seit
Anfang des Rechnungsjahres; 50 Jahre gewähren eine Altersstimme.
I amburg. Diese Hansestadt hat von Einkommensteuer abhängiges und in
viele Klassen gespaltenes Wahlrecht. Zunächst bestehen drei Hauptklassen, zwei Standes-
klassen, dio Grundeigentümer- und die Bildungsklasse, von denen jede 40 Bürgerschaftsmit-
glieder wählt, dann die allgemeine Wählerklasse. Sie zerfällt in eine Landabteilung, die 8,
und eine Stadtabteilung, die 72 Bürgerschaftsmitglieder kreiert. Letztere gliedert sich wieder
in die Wähler mit mehr als und in die Wähler bis zu 2500 Mk. Einkommen. Die erste
der beiden Steuergruppen wählt doppelt soviel Abgeordnete als die zweite, von den 72
also g ‚Wahlgesetz v. 5. III. 1906). Reuß j. L. hat seit 1913 dasselbe Mehrstimmrecht
wie Sachsen.