40 Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates.
Anhänger verschafft hat.) Die Hauptgedanken dieser Theorie können in folgender Weise zu-
sammengefasst werden. Es gibt neben den physischen Personen Verbandspersonen, welche zwar
nicht sinnlich wahrnehmbar, aber wie jene wirkliche, lebendige Wesen sind. Ihre Substanz ist der
allgemeine Wille, welcher aus den Willenssplitteın der einzelnen Menschen gebildet wird und
eine eigene reale Wesenheit besitzt; dadurch ist der Verband zu einem einheitlichen Leben befähigt.
Die höchste und umfassendste dieser realen Verbandspersonen ist der Staat; er hat die machtvoile
Durchführung des allgemeinen Willens zum Inhalte, lässt aber neben sich den Willen der einzelnen
Menschen und der dem Staate eingegliederten Körperschaften bestehen. Gegen diese Auffassung
ist häufig das Bedenken erhoben worden, dass die Wissenschaft nur sinnlich wahrnehmbare Objekte
anzuerkennen in der Lage sei, dass daher die Annahme solcher von den Einzelmenschen verschie-
denen, lebendigen Verbandswesen indas Gebiet des Transzendenten, alsodes Glaubensgehöre 1%} Diese
Einwendung ist unbegründet, da alles Psychische, auch das des Einzelmenschen nur aus seinen
Wirkungen erkannt werden kann°.)
Mehr Beachtung verdient die Behauptung, dass der Gesamtwille auch als psychische Realität
in der Erfahrung nicht gegeben sei, dass die Wirkungen, welche als Emanationen des Gemein-
willens von der organischen Theorie behauptet werden, sich bei näherer Betrachtung nuı als Willens-
akte einzelner physischer Personen darstellen. Allein namhafte Psychologen der Gegenwart nehmen
keinen Anstand, den Gesamtwillen als eine psychische Realität anzuerkennen und gewähren damit
der organischen Staatslehre eine wissenschaftliche Basis.) Entscheidend dürfte jedoch die Er-
wägung sein, dass auf Grund der geschichtlichen Erfahrung eine gemeinsame Willensrichtung der
Staatsbürger als Grundlage des Gesamtwillens nur ip jenen Staatsformen festgestellt werden kann,
bei welchen in den wichtigsten Aktionen des Staates auf eine Mitwirkung des Volkes, min-
destens in der Gestalt der öffentlichen Meinung Rücksicht genommen wird.) In der absoluten
Monarchie, aber auch in der reinen Aristokratie wird der Wille des Staates gewiss nicht in der Weise
gebildet, dass er sich als eine Zusammenfassung der Individualwillen darstellt. Mit anderen Worten,
die organische Staatslehre enthält überwiegend ein ideales Moment, dem sich der moderne Kultur-
staat zusehends nähert; sie versagt aber, wenn man die älteren Epochen des Staatslebens, ins-
besondere die despotischen Staatsformen in Betracht zieht, und kann daher alseineallgemeine
Theorie des Staates schwerlich Richtigkeit haben.)
IV. Juristische Theorie.
Die juristische Theorie des Staates sucht sein Wesen in der Weise zu erfassen, dass er
als Rechtsbegriff erscheint; dabei wird von der Mehrzahl derjenigen, welche diese Auffassung ver-
treten, zugegeben, dass damit nicht das ganze Wesen des Staates erschöpft sei,**) sondern nur eine,
1) O. Gierke, die Grundbegriffe des Staatsreohts 1874, das deutsche Genossenschafterecht, 1868—1881,
haftatheorie und die deutsche Rechtssprechung 1887, das Wesen der menschlichen Verbände 1892.
12) So besonders Loening a. a. O. 699 und Dugnit a. a. O.
®) Auch der Einzelwille ist nicht unmittelbar wahrnehmbar. Es kann sich also nur darum handeln, ob ge-
nügende Gründs aus d brung tnel ind, fdie Exist inesG twill hli kö
#1) So bes. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie 5. Aufl. IH, S. 277, System der Philo-
sophie 2. Aufl. S. 624, 626, Völkerpsyohologie, 2. Aufl. I, 1, 8.7 £f.
”) Darauf weist auch hin Preuss „über Organpersönlichkeit‘‘ in Schmollers Jahrbuch 1902 II S. 125,
welcher in der öffentlichen Meinung eine charakteristische Erscheinungsf‘ Gemeinwillens erblickt.
) Die organische Theorie enthält das ideale Moment, dass sich der Wille des Staates möglichst den In-
toressen der Staateglieder anpassen solle; darauf hat R. Schmidta a. O1S. 236 aufmerksam gemacht.
24) So die herrschende Meinung, wie sie namentlich durch Jellinek vertreten wird; sie unterscheidet einen
sozialen und einen juristischen Staatsbegriff. Hingegen erklärt Loening S. 694, dass der Staatsbegriff ein einheit-
licher u. zw. ein Rechtsbegriff sei. Dieselbe Auffassung vertiitt neuestens Kelsen a. a. O., welcher (S. 163 ff) sowobl
einen realen Gesamtwillen des Staatsvolkes als auch eine teleologische Einheit desselben verwirft und erklärt, dass
durch einen rein juristischen Akt die heterogensten Elemente zun Stastsvolke vereinigt werden; die Gesellschaft
sei eine davon ganz verschiedene, an die Stantsgrenzen nicht gebundene, innerhalb derselben vielfach gespaltene
geistige Gemeinschaft. Ja, er geht so weit zu bezweifeln, (S. 173) dass es irgend einen gemeinsamen Zweck gibt,
den alle innerhalb der Staatsgrenzen vereinigten Menschen verfolgen. Allein das Bewusstsein der Zusammen-
gehörigkeit der Bürger eines Staates, das Streben nach gemeinsamen Zielen, die Opferwilligkeit bei den Staat
bedrohenden Gefahren, sind elementare Tatsachen der Weltgeschiohte, welohe nicht ignoriert werden dürfen.
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