Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

78 Eduard Hubrich, Die Staatsformen. 
  
erhebt, ohne freilich zu hindern, dass ein nicht unerheblicher Bruchteil des Staatsvolks in 
den Frauen, Handlungsunfähigen usw. ausgeschlossen bleibt. Die Aristokratie heisst Oligarchie, 
wenn die herrschende Minderheit verfassungsmässig sehr beschränkt ist, Timokratie oder Pluto- 
kratie, je nachdem die herrschende Minderheit sich aus Amts- und Würdenträgern oder aus den 
Reichsten zusammensetzt. Die Demokratien sind entweder unmittelbare oder mittelbare. In den 
ersteren ist auch die Ausübung der Staatsgewalt, die Staatsregierung selbst direkte Angelegenheit 
der Staatsbürgergemeinde, zum mindesten grundsätzlich die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt, 
aber zu einem gewissen Teile auch die Ausübung der Rechtsprechung und Verwaltung. Die unmittel- 
bare Demokratie passt nur für Staatsverbände kleinster Art.°) Die mittelbare Demokratie beruht 
auf dem Repräsentativgedanken, welcher auch zur Einrichtung der Volksvertretung in der kon- 
stitutionellen Monarchie geführt hat. In der mittelbaren Demokratie sind — wegen der Grösse 
des Staatsverbandes — die Funktionen der Staatsregierung delegationsweise an sekundäre Staats- 
organe verteilt, die entweder sämtlich oder zum Teil von den stimmberechtigten Vollgenossen 
der Staatsbürgergemeinde bestellt werden. Insbesondere ist die Wahl des mit der gesetzgebenden 
Gewalt betrauten „gesetzgebenden Körpers‘‘ Aufgabe der Staatsbürgergemeinde, doch auch die 
Wahl des zur Exekutive berufenen „Präsidenten“ und der Richter kann mitunter von ihr aus- 
gehen, während anderwärts der Präsident der Republik vom gesetzgebenden Körper bestellt wird. 
Bisweilen umgibt sich die mittelbare Demokratie ausserordentlicherweise mit unmittelbar-demo- 
kratischen Institutionen. Bei Verfassungsänderungen, aber manchmal auch bei bestimmten Len- 
desgesetzen kann die durch Abstimmung einzuholende Entscheidung der ganzen Staatsbürger- 
gemeinde Vorschrift sein (Referendum, obligatorisches, fakultatives R.). Andererseits kann die 
als Träger der Staatsgewalt anzusehende Staatsbürgergemeinde einem Einzelindividuum zunächst 
alle drei Funktionen der Staatsgewalt übertragen, so dass dasselbe eine monarchenähnliche Stellung 
gewinnt („demokratische Tyrannis‘‘). Jedenfalls sind auch nur Scheinmonarchien, in Wahrheit 
aber Republiken Staaten mit „Volks‘‘- oder „Nationalsouveränetät‘‘, in welchen die Ausübung der 
Staatsgewalt neben dem durch Volkswahl sich ständig erneuernden gesetzgebenden Körper einem 
erblichen Staatshaupt mit monarchischer Titulatur delegiert ist. In neuerer Zeit sind allerdings 
Versuche gemacht, unter Hereinziehung dieser Verfassungsform den Begriff der Monarchie umzu- 
deuten und zu erweitern. Jellinek insbesondere glaubt noch gegenwärtig dem monarchischen 
Prinzip einen beliebigen rechtlichen Inhalt geben zu dürfen und erachtet als wesentliches Merk- 
mal des Monarchen nur, dass ein solcher die höchste Gewalt des Staates darstellt, d. h. die richtung- 
gebende Gewalt, die den Staat in Bewegung setzt und erhält und wenigstens ein Zustimmungsrecht 
bei Verfassungsänderungen in sich schliesst: einen solchen ‚Monarchen‘ könne es auch in Staaten 
mit Volks- oder Nationalsouveränetät geben. Aber eine derartige Konstruktion bewirkt in Wahr- 
heit eine Verdunkelung des klaren hergebrachten Monarchenbegriffs. Das erbliche, mit monar- 
chischer Titulatur ausgestattete, aber auf dem Volkswillen rechtlich ruhende Staatshaupt ent- 
behrt der schlechthin gesicherten Rechtsbasis, welche dem kraft ursprünglichen Rechts zum Träger 
der Staatsgewalt berufenen wahren Monarchen zukommt. In äussersten Notfällen des Staatslebens 
erscheint es im letzten Ende materiell nicht ohne Rechtsgrund, wenn der Volkswille, der verfassungs- 
mässig als der primäre Träger des Staatsbaues gewertet ist, unter Beseitigung formeller Schranken 
sich selbst des rechtlich nur auf seinen Schultern ruhenden „Monarchen“ entledigt.*) 
°) Antike Stadtstaaten, schweizerische Kantone mit Landegemeinden. 
°) Unter den deutschen Staaten sind „Republiken‘ und zwar speziell „„Aristokratien‘“‘ die drei Hanse- 
städte. Io ihnen ist nicht die grosse Gesamtheit der aktiven Staatsbürger, sondern die Einheit zweier kleinerer, 
durch Wahl bestellter Kollegien, nämlich von Senat und Bürgerschaft, Träger der Staatsgewalt; andrerseits ist 
duch die Ausübung der Staatsgewalt in ihren drei Funktionen in besonders gegliederter Weise teils beiden Kollegien, 
teils den Gerichten übertragen. Die Hamburgische V. v. 13. X. 1879 Art. 6: „Die höchste Staatsgewalt steht dem 
Senat und der Bürgerschaft gemeinschaftlich zu. Die gesetzgebende Gewalt wird von Senat und Bürgerschaft, 
die vollziehende vom Senat, die richterliche von den Gerichten ausgeübt.‘ Das „gemeinschaftliche Zustehen“ 
ergibt deutlich den Gedanken der Einheit des Trägers der Staatsgewalt. Gleiohartig Art. 4. Lübeck'sche V. 
5. IV. 1875 und $ 3, 60 Bremen’sche V. 17. XI. 1875. Eine mittelbare Demokratie ist gegenwärtig Frankreich.
	        
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