Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Eduard Hubrich, Staatenverbindungen und Staatenbündnisse. 85 
  
Staatsmänner,!2) sondern vor allem auch die Institutionen beider Verbindungen nach ihrem ob- 
jektiven Befund, welche gegenüber den deutschen Einzelstaaten das Walten einer eigenständigen 
souveränen Oberstaatsgewalt direkt bewähren: a) Die Verfassungen beider Verbindungen stellen 
übereinstimmend den zwingenden Rechtsgrundsatz auf, dass Veränderungen der Gesamtver- 
fassung nur im Wege der Bundesgesetzgebung selbst erfolgen, also durch einen Akt des Rechts- 
setzungswillens des Ganzen, der demnach juristisch über die den Einzelstaaten verbliebene Kom- 
petenzsphäre nach Belieben verfügt und jedenfalls befreit ist von der Notwendigkeit einer ihm in 
juristischer Selbständigkeit gegenübertretenden Zustimmungserklärung eines Einzelstaats. Nicht 
ein juristisch selbständiges Gegenübertreten von Gesamtwillen und Gliedstaatswillen, sondern nur 
einen besonderen Weg für die Bildung des Gesamtwillens, der durch das vorschriftsmässige Gegen- 
übertreten der Gliedstaatswillen im Bundesrate gewonnen wird, sieht Art. 78 nordd. B.V. vor, 
wenn er für Verfassungsänderungen im Bundesrat Zweidrittelmajorität fordert, und desgleichen 
Art. 78R. V., wenn bei Verfassungsänderungen im Bundesrat sei es 14 Stimmen nicht dagegen 
sein dürfen, sei es positive Zustimmung eines sonderberechtigten Gliedstaats vorliegen muss. — 
b) Die Verfassungen beider Verbindungen stellen übereinstimmend den zwingenden Rechtsgrund- 
satz auf, dass die Bundesgesetze den Landesgesetzen vorgehen und durch die von Bundes wegen 
erfolgende Publikation ohne weiteres auch die Einzelnen innerhalb des Bundesgebiets verpflichten 
(Art. 2).— c). Die Verfassungen beider Verbindungen haben namentlich im Bundesrat und Reichs- 
tag Organe des Ganzen geschaffen, deren Tätigkeit durch nichts anderes in der Welt ersetzt werden 
kann, und die einer Willensbildung diensam sind, die sogar mit den übereinstimmenden Willens- 
entschlüssen sämtlicher Einzelstasten in Kontrast treten und dieselben überwinden kann. — Die 
deutschen Einzelstaaten haben dagegen den Staatscharakter behalten. Sie machen in bestimmter 
Sphäre eine eigenständige, nicht vom Ganzen abgeleitete Befehlsmacht geltend. Insbesondere 
äussert sich dieselbe in der Selbstbestimmung der Landesorganisation. Nur die „Souveränetät“ 
haben die Einzelstaaten zugunsten des Ganzen eingebüsst. Namentlich Preussen ist nicht mehr 
souverän. Es muss sich dem in gültig zustandegekommenen Reichsgesetzen enthaltenen Reichs- 
willen fügen, wenngleich es bsi der Stimmabgabe der Gliedstaatswillen im Bundesrat gewisse Ab- 
stimmungsprivilegien besitzt (Art. 5, 6, 35, 37, 78 R. V.). 
Als Träger der eigenständigen souveränen Oberstaatsgewalt kommt weder im nordd. Bund, 
noch im neuen deutschen Reich ein Einzelindividuum in Betracht, sondern die Einheit der ver- 
bundenen Einzelstasten. Mithin passt für beide Verbindungen allein die Verfassungsform der 
  
12) Abg. Miquelim Reichstag am 19. III. 1867, Bezold Materialien Bd. 1 S. 401; Abg. Schulze-Delitzsch 
S. 207. Obwohl für den Bundesstaatscharakter des nordd. Bundes und des Reichs die bei weitem überwiegende 
Majorität sich ausspricht, herrscht dio grösste Meinungsverschiedenheit über die juristische Wertung der Grün- 
dungsvorgänge bei beiden Gebilden. Da die nordd. Stasten vor dem nordd. Bund souveräne Völkerrechtssub- 
jekte waren, besassen sie als solche die Fähigkeit, durch Staatsvertrag sich über eine Oıdnung zu verständigen, 
kraft deren sie unter Einschränkung ihrer völkerrechtlichen Persönlichkeit und ihrer Herrschermacht hinfort als 
Glieder einem übergeordneten souveränen Gesamtstaat angehören sollten. Freilich trat dadurch der nordd. Bund 
mit der nordd. Bundesverfassung selbst noch nicht ins Leben. (Vgl. Jellinek, Staatslehre S. 758.) Die Entstehung 
eines Staats bedarf immer einer bestimmten Entwicklung von innen heraus: es muss 
in Darstellung des neuen Staatswesens von innen heraus ein Herrscher auftreten, welcher in eigener Entschluss- 
fassung durch eine entsprechende direkte oder indirekte Betätigung seiner eigenständigen Rechts- 
normierungsfunktion sich Staatsgebiet, Staatsvolk und überhaupt die Staatsordnung aneignet. In dieser Weise 
hat auch der Herrscher im nordd. Bund, die Einheit der verbündeten nordd. Staaten, sich wirklich bewährt (Ver- 
tragsschliessung v. 8. VII, Ernennung des Bundeskanzlers am 14. VII., Publikandum v. 26. VII. 1867. Vgl. 
Haenel, St.R. I. 23 £., Meyer-Anschütz S. 177), und der 1. Juli 1867, seit welchem die rechtliche Möglichkeit solcher 
Bewährung gegeben war, kann als Geburtstag des nordd. Bundes und der nordd. Bundesverfassung als des inneren 
Verfassungsgesetzes des neuen Bundesstaats mit Fug angesehen werden. Bei der Entstehung des Reichs am 1.1. 
1871 handelte es sich bloss um den Eintritt einiger neuer Mitglieder in ein bereits bestehendes Bundesstaatswesen, 
selbstverständlich mit entsprechender Änderung der Bundesverfassung. Die Aufnahme der neuen Mitglieder 
erfolgte auf Grund von Unterwerfungsverträgen derselben mit der bestehenden Bundesgewalt durch einen Akt 
der Gesetzgebung der letzteren (Publikation der Novemberverträge im Bundesgesetzblatte. Vgl. Jellinek S. 760. 
Triepe] S. 182: „Die Reichsverfassung ... am 1. Januar 1871... zustandegekommen als Gesetz des nordd. Bundes“),
	        
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