Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

18 Carl Bachem, Zentrumspartei. 
  
sofort zu einer festen allumf: den staatspolitischen Haltung zu kommen, welche dem Kaiser gibt, 
was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. 
Die Zentrumspartei ist von Anfang an gegründet worden als „Verfassungspartei‘, das heisst 
als allgemeine politische und parlamentarische Partei, welche das Staatsganze erfasst im Sinne der 
bestehenden Verfassung und jeder Seite der staatlichen Tätigkeit ihre pflichtmässige Fürsorge 
widmet. Von politischen Einzelforderungen, wie sie das Soester Programm enthielt, sahen die 
späteren Fıaktionsprogramme bewusstermassen ab und hielten so die Zukunft offen. Diesem ur- 
sprünglichen programmatischen Charakter der Partei entspricht ihre Geschichte und ihıe fest- 
stehende Praxis. Die Zentrumspartei ist heute eine allgemeine Staats- und Reichspartei, welche 
mit Recht von sich sagen darf, dass nichts, was den Staat angeht, ihr fremd ist. Sie treibtdie Kirchen- 
politik im Rahmen ihrer allgemeinen Politik, wie ja auch die kirchenpolitische Freiheit im Rahmen 
unserer staatlichen Verfassungen festgelegt ist, indem sie die Auffassung vertritt, dass „das Wohl 
der Gesellschaft aus einem doppelten Elemente, dem religiösen und dem bürgerlichen erwächst- 
(Schreiben des Papstes Pius X. an Kardinal Fischer vom 30. Oktober 1906), und dass „zwei Pflich- 
tenkreise‘‘ die Menschen umschliessen: „Der erstere zielt auf die Blüte des Staates, der andere auf 
das Gesamtwohl der Kirche, beide auf die Vervollkommnung der Menschen“ (Encyklika „Sapien- 
tiae christianae‘‘ Papst Leos XIII. vom 10. Januar 1890). 
Sie betrachtet demgemäss die Kirchenpolitik keineswegs als den einzigen, wohl aber als 
einen höchst wichtigen und sogar wesentlichen Teil ihres Programmes und hält an dem Grundsatz 
fest, dass die Religionsfreiheit einen integrierenden Bestandteil unserer staatlichen Zustände dar- 
stellt. Sie vertritt die Anschauung, dass wie die evangelischen Landeskirchen, so auch die 
katholische Kirche auf ihrem eigenen Gebiete selbständig und unabhängig ist und sein soll, dass 
der Staat pflichtgemäss und gerecht handelt, wenn er diese Unabhängigkeit achtet, dass die mensch- 
liche Gesellschaft am besten fährt, wenn Staat und Kirche unter gegenseitiger Achtung der ihnen 
zustehenden Souveränität auf ihrem eigenen Gebiet freundschaftlich Hand in Hand gehen und 
dass, wo die beiderseitigen Gebiete sich berühren und zum Teil schneiden, von Fall zu Fall eine 
vernünftige und billige Verständigung einzutreten hat. 
Neben dieser Kirchenpolitik aber und über sie hinaus bat die Zentrumspartei unter Führung 
der Zentrumsfraktionen in nunmehr 40jähriger Arbeit eine eigene, eigenartige und in ihren Grund- 
zügen fest umrissene Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik entwickelt, welche, wie jeder Band 
der Berichte über die Verhandlungen unserer Parlamente dartut, den weitaus grössten Teil ihrer 
Tätigkeit beansprucht. Diese Politik beruht in finanzieller Hinsicht auf dem Streben nach Spar- 
samkeit in den Staatsausgaben bei voller Befriedigung der staatlichen Bedürfnisse. In wirtschaft- 
lichen Dingen vertritt sie den Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit unter den sich ent- 
gegenstehenden Interessen der verschiedenen Stände. In sozialen Fragen beruht sie auf der 
warmen Bereitwilligkeit zum Schutze der jeweils schwächeren Bevölkerungskreise, zur Erhaltung 
eines kräftigen Mittelstandes, zur Mitarbeit an der sozialen Hebung der arbeitenden Klassen und 
indem Bestreben der Milderung der sozialen Gegensätze. In allgemein-staatspolitischen Dingen 
besteht sie, olıne an doktrinäre Überlieferungen gebunden zu sein, in der eifiigen Anteilnahme an 
der nationalen Grösse und innern Festigkeit von Reich und Staat sowie an der Entwicklung der 
nationalen Hilfsquellen, alles in strenger Wahrung der bestehenden Verfassungen, im Reich also 
auch in Wahrung des bundesstaatlichen Charakters und der Rechtsstellung der Einzelstaaten. 
Trotz der am Tage liegenden allgemeinen politischen Tätigkeitder Zent frakti werden 
diese vielfach noch immer lediglich nach den ursprünglich überwiegend kirchenpolitischen Beweg- 
gründen ihrer Entstehung betrachtet. Doch kann diese Betrachtungsweise niemals zueinem vollen Ver- 
ständnis der Zentrumspolitik und der ganzen Zentrumsbewegung führen. Dieses Verständnis ist 
nur möglich, wenn man festhält, dass die Zentrumspartei genau in demselben Sinne eine politische 
Partei ist, wie die Parteien der Rechten, die liberalen Parteien und die Sozialdemokratie, und dass 
sie ja keinem anderen Sinne eine konfessionelle Partei ist, wie ebenfalls alle diese anderen Parteien. 
Kirchenpolitik und Staatspolitik lassen sich nun einmal nicht trennen. Die Grundlage der meusch- 
lichen Verhältnisse ist nicht der Monismus des Staates, sondern der Dualismus von Staat und Kirche. 
Ist doch die ganze Welt vom Dualismus beherrscht: Gott und Welt, Seele und Leib, Kirche und
	        
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