Ernst Bassermann, Nationalliberale. 97
Die nun folgenden 20 Jahre haben dem Parteileben als solchem und den liberalen Parteien
insbesondere manche neue Schwierigkeiten gebracht. Die immer mehr zunehmende Organisation
der Stände und Berufsklassen erzeugte neue Probleme auch für die Parteien.
Hunderttausende, später Millionen deutscher Arbeiter suchten leider ihre Vertretung in der
Sozialdemokratie und gingen dem Liberalismus verloren.
In den Zeiten der Notlage deutscher Landwirtschaft entstand der Bund der Landwirte,
dem es gelang, der nationalliberalen Partei viele Wähler abwendig zu machen. Diese beiden Klassen-
organisationen stellten ihre Klassenforderungen mit einer solchen Entschiedenheit in den Vorder-
grund, dass darunter die Politik des allgemeinen Wohles und des Ausgleiches unter den Bevölkerungs-
klassen notleiden musste.
Unsere Partei ist in diesen 20 Jahren sich selbst treu geblieben. Dabei hat sie eine Menge
neuer Aufgaben und Ziele in ihr Programm aufnehmen müssen und hat mit Eifer und Gewissen-
haftigkeit diese neugestellten Aufgaben zu lösen gesucht.
So hat sie der Not der Landwirtschaft ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet und im ‘Reichs-
tag und in den einzelnen Landtagen überall mitgeholfen, wo es galt, die Produktionsbedingungen
der Landwirtschaft zu verbessern. Sie hat dies insbesondere bei dem Zolltarif des Jahres 1902
bewiesen, als sie unbekümmert um manche Schwierigkeiten im eigenen Lager, im Kampf gegen die
Führung des Bundes der Landwirte und deren überspannte Forderungen, und gegen eine wüste
Obstruktion der Sozialdemokratie den Ausschlag für die höheren landwirtschaftlichen Zölle gab,
die überdies als Minimalzölle im Zolltarif festgelegt wurden. Dieses und die ilım folgenden Handels-
verträge haben, wie selbst von agrarischer Seite später zugegeben werden musste, die Produktions-
bedingungen der deutschen Landwirtschaft gehoben und einer gedeihlichen Entwickelung den Weg
gebreitet. Auch in der Frage des Schutzes der deutschen Viehzucht gegen die Einschleppung von
Seuchen ist die Partei unbekümmert um manche Gegenströmungen der Landwirtschaft zu Diensten
gewesen. So stand sie auch der Gründung des deutschen Bauernbundes, der gegenüber den gross-
agrarischen Interessen sich des kleinen und mittleren Bauernstandes annimmt, sympathisch gegen-
über.
Die Mittelstandsfragen wurden in weitem Umfange in den Kreis der Parteibestrebungen
gezogen, wobei weite Teile des deutschen Mittelstandes mit ihrem sachverständigen Rate halfen;
die Handwerker-Organisation, die Gesetze über den unlauteren Wettbewerb, der Bauhandwerker-
schutz und viele andere Gesetze geben hiervon Zeugnis. Freilich musste die Partei allen Bestre-
bungen Widerstand leisten, die vermeinten, durch Belebung mittelalterlichen Geistes dem Handwerk
helfen zu können und den Kampf aufnehmen gegen Bestrebungen, die dem Handwerk nichts nützen
konnten, sondern mangels freier Bewegung es erdrosseln mussten.
Auch die soziale Reform, die ja nimmer ein Ende finden kann, sondern sich Hand n Hand
mit der Entwicklung der Industrie immer neuen Problemen zuwenden muss, wurde eifrig gepflegt
und das Endziel, die missleiteten Arbeiter dem monarchischen Staat zurückzugewinnen und sie
zu heilen von ihren undurchführbaren Utopien und dem Kinderglauben an den Zukunftsstaat,
wurde stets im Auge behalten und in eifriger Mitarbeit gepflegt.
Die beiden grossen Ziele der Partei aber: Pflege der nationalen Aufgaben und Erfüllung
des Volkes mit liberalem Geiste stehen nach wie vor im Vordergrund der Bestrebungen der national-
liberalen Partei. So hat sie in den vordersten Reihen gekämpft für den Ausbau unseres Heeres, die
Schaffung einer deutschen Flotte und die Entwickelung der deutschen Kolonialpolitik. Freilich
eine unsoziale Reichsfinanzreform, die der Sozialdemokratie neues Wasser auf ihre Mühlen brachte,
vermochte die Partei nicht mitzumachen und fand darin auch die einmütige Billigung ihrer Partei-
tage in Berlin 1909 und Kassel 1910. Nicht jede Vermehrung der Mittel des Reichs ist eine nationale
Tat, sondern nur eine solche Reform, welche gerecht ist und nicht das Vertrauen des Volkes so sehr
erschüttert, wie dies bei der Finanzreform des Jahres 1909 der Fall war.
Wie sehr diese Gedanken selbstioser von Parteivorteilen und Interessenfragxen nicht beein-
flusster Sorge für eine starke Wehr unseres Vaterlandes Gemeingut der Nation geworden sind,