30 Ernst Bassermann, Nationalliberale.
entziehen, würde eine Zerstörung unserer ganzen jetzigen politischen Organisation sein
und würde wahrscheinlich zur Durchführung ein so straffes Anziehen der Zügel verlangen,
dass dabei noch andere Güter der Freiheit und Kultur verloren gehen könnten, die nicht
allein die Sozialdemokratie angehen.“
Bei dem Zedlitz’schen Volksschulgesetzentwurf redete der Führer der nationalliberalen
Partei der Einigung der liberalen Parteien das Wort. Er beklagte, dass es denselben nicht ge-
lungen sei, sich über wirtschaftliche Streitigkeiten wenigstens soweit zu verständigen, dass sie dieses
Gebiet für neutral erklären, um im übrigen den gemeinsamen politischen Boden aufrecht erhalten
zu können. Er sprach folgende Worte:
„Es könnten Verhältnisse eintreten in unserer inneren Entwicklung, die es wün-
schenswert, ja vielleicht notwendig machen werden, dass sich jetzt bekämpfende liberale
Gruppen und Männer einander wieder nähertreten aus Gründen gemeinsamer Kämpfe,
welche nicht auf materiellem Boden liegen, sondern auf anderen Gebieten, wo es sich um
ideale Güter, nicht um materielle Interessen handelt. Es würde das nach meiner Meinung,
der ich selbst stets liberal gewesen bin und bleiben will, für die weitere Entwickelung nur
förderlich sein. Das liberale Bürgertum in Stadt und Land, die liberalen Anschauungen
haben einen Anspruch auf grössere Geltung,.als sie zurzeit besitzen,‘
Worte, die auch für die heutige Zeit ihre Bedeutung haben.
Wenn je, so ist heute für die nationalliberale Partei Anlass und Notwendigkeit vorhanden,
ihre liberalen Grundsätze zu betonen und zur Durchführung zu bringen. Eine tiefgehende Miss-
stimmung geht durch unser Volk. Das Gefühl einer ungerechten Verteilung von Rechten und
Pflichten, die Erkenntnis, dass Gewerbe und Industrie, Handwerk und Handel nicht genügend
zur Geltung kommen, dringt in immer weitere Kreise und fördert die Radikalisierung unseres
Volkes. Hier kann die Partei des gemässigten Liberalismus, wenn sie die berechtigten Forderungen
des Volkes aufnimmt und vertritt, sich Vertrauen erwerben und den Abmarsch in das radikale Lager
verhindern.
Die nationalliberale Partei bekämpft kraft ihres liberalen Charakters jede einseitige Klassen-
bewegung einerlei, ob diese ihren Niederschlag in der Sozialdemokratie oder anderweit findet; sie
steht im ewigen Kampfe gegen den Ultramontanismus, dessen Weltanschauung dem Liberalismus
wesensfremd und feindlich ist. Wie in den romanischen Ländern, so wird auch in Deutschland
unbeschadet manches gemeinsamen Arbeitsgebiets der Kampf zwischen Ultramontanismus und
Liberalismus bis zum nicht zweifelhaften Siege des letzteren geführt werden müssen.
In wirtschaftlichen Fragen gab die nationalliberale Partei ihren Mitgliedern Meinungs-
freiheit. Dabei muss festgestellt werden, dass die Uneinigkeit, die zur Zeit der Heidelberger Er-
klärung durch die Partei ging und sie lähmte, eiuer einheitlichen Gesamtauffassung in wirtschaft-
lichen Fragen Platz gemacht hat. Ohne Fraktionszwang ist seit dem Kampfe um den Zolltarif
des Jahres 1902 die Partei in dem Grundsatz des Schutzes der nationalen Arbeit ın Industrie,
Gewerbe, Handel und Landwirtschaft einig geworden. und wird dieses Wirtschaftsprogramm
auch bei der kommenden Zolltarifnovelle und künftigen Handelsverträgen zur Geltung bringen.
Diese Einigkeit erhöht die Stosskraft, wie es andererseits für eine grosse Partei eine Notwendigkeit
und Selbstverständlichkeit ist, in hochpolitischen Fragen, wie eine solche der Streit um die Erb-
schaftssteuer, der Kampf um den Block und Bülow war, einig und geschlossen aufzutreten, wenn
sie nicht der Lächerlichkeit verfallen will.
Positive staatliche Wirksamkeit war und ist eine Wesenseigenschaft der national-
liberalen Partei, wie dies bei der Verabschiedung des Zolltarifs, neuerdings der elsass-
lothringischen Verfassungsreform und der Reichsversicl gsordnung, welche beide Gesetze
ohne und gegen die nationalliberale Partei nicht zustande kommen konnten, wieder aufs
neue erwiesen wurde. Dieser positive Charakter der Partei bewahrt sie vor einer Ueber-
schätzung des taktischen Momentes in der Politik, während, wie Reichsfinanzreform und die
jüngste sozenannte Wahlreform in Preussen erweisen, die liberale Weltanschauung davor