Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Julius Pierstorff, Handwerk und Kleingewerbe. 421 
  
Das eigentliche Fundament und den wichtigsten Bestandteil dieses Mittelstandes bildet 
der Bauernstand. Er entspricht auch dem altmittelständischem Ideal am vollkommensten, 
doch ist der von der Gutsuntertänigkeit befreite, wirtschaftlich ganz auf sich selbst gestellte Bauer 
in Zentraleuropa in der Hauptsache erst eine Schöpfung der grossen Agrerteformen des 19. und 
teilweise des 18. Jahrhunderts. Der Bauernwirtschaft, welcher bei uns, allgemein gesprochen, 
die Betriebe zwischen 2 und 100 ha zuzurechenen sind, gehören etwa 70 % der landwirtschaftlich 
genutzten Fläche an, so dass sie durchaus den Schwerpunkt der deutschen Agrarverfassung bildet. 
Von jenen 70 % entfallen je 10 % auf die kleinbäuerlichen und je 30 % auf die mittel- und die gross- 
bäuerliche Wirtschaft, während weitere 25 % dem Grossgrundbesitz zufallen und 5—6 % der 
Parzellenwirtschaft. Dabei ist nicht ausser Acht zu lassen, dass je nach dem Intensitätsgrade des 
Landwirtschaftsbetriebes, wie nach klimatischen und Bodenverhältnissen der Umfang der einen 
bäuerlichen Betrieb bedingenden Bodenflächen, ferner auch das Mischungsverhältniss der Besitz- 
und Betriebsklassen in den verschiedenen Gegenden sich verschieden gestalten. 
Wenn sich der Bauernstand in dem Umfange, in welchem er aus den grossen Agrarreformen 
hervorgegangen ist, trotz aller Verschiebungen im einzelnen, im allgemeinen bis zum heutigen Tage 
behauptet hat, so liegt die tiefere Ursache dieser Erscheinung im inneren Wesen der landwirtschaft- 
lichen Produktion. Hier besitzt der Grossbetrieb keine solche spezifische Überlegenheit gegen- 
über dem kleinern Betriebe, wie es auf weiten Gebieten der Industrie und des Handels der Fall ist. 
Ein etwaiges Übergewicht des Grossbetriebes im Körnerbau wird aufgewogen durch die grösseren 
Erfolge des bäuerlichen Betriebes in der Viehzucht, für die er günstigere Bedingungen bietet. Je 
kleiner die Betriebe, desto stärker — vom Parzellenbetriebe abgesehen — die Viehhaltung. Über- 
dies nimmt bei zunehmender Flächengrösse von einem gewissen Punkte an die Wirtschaftlichkeit 
des Einzelbetriebes überhaupt ab. Vor allem aber schliesst der Landwirtschaftsbetrieb eine Absatz- 
konkurrenz solcher Art aus, wie sie Gewerbe und Handel beherrscht. Da dort der Einzelbetrieb 
nur innerhalb der bewirtschafteten Bodenfläche die Möglichkeit gesteigerter Produktion in sich 
birgt, vermag keiner den anderen durch Über- bezw. Unterbietung in seiner Existenz zu bedrohen, 
indem er etwa ihm den Absatz entzieht und ihn mit seinen Betriebsmitteln lahmlegt. Unter diesen 
Umständen gereicht die bessere Schul- und Fachbildung, welche man der bäuerlichen Bevölkerung 
in wachsendem Masse angedeihen lässt, ihr zum besonderen Vorteil, indem sie ihr ermöglicht, ihre 
gesicherte wirtschaftliche Lage produktiv wirksamer auszunutzen. Zugleich brachte die grossartige 
Entwickelung des Genossenschaftswesens, seitdem es Raiffeisen gelungen war, es der Eigenart der 
ländlichen Verhältnisse besser anzupassen, dem bäuerlichen Betriebe eine gewaltige Stärkung. 
Im Vordergrunde steht das grossartige Netz von Spar- und Kreditvereinen, welche nicht 
nur dem Bauern den erforderlichen Personalkredit vermitteln, sondern auch demLandeseineeigenen 
Kapitalien erhalten und andere zuführen. Dazu kommen die rapid sich verbreitenden Einkaufs- 
und Berufsgenossenschaften für gemeinsame, daher billigere und gegen Betrug Schutz gewährende 
Beschaffung von Dünger- und Futtermitteln, Saatgut, Maschinen und sonstige Betriebsmittel. 
Für die Bildung derartiger Genossenschaften bietet der Bauernstand einen ganz besonders günsti- 
gen Boden, da sein Bedarf kein ’individualisierter, sondern gleichmässiger Massenbedarf ist und seine 
Mitglieder eben eine geschäftliche Konkurrenz im üblichen Sinn nicht kennen, die ihrer Natur nach 
Genossenschaftsbildung letzterer Art zum mindesten erschwert, ja weithin ganz unmöglich macht. 
In anderer Richtung brachten die Genossenschaftsmolkereien einen bedeutenden Aufschwung, 
von denen esim Jahre 1909 nicht weniger als 3271 gab. Als Produktivgenossenschaften nur partiellen 
Charakters nehmen sie dem einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe nicht die Selbständigkeit 
und verletzen kein anderes Mittelstandsinteresse; nur als Verwertungs- und Absatzstellen 
beschränken sie den selbständigen Handel ebenso wie es die Einkaufsgenossenschaften tun. In 
gleicher Richtung wirken Verwertungsg haften anderer Art, wie die Kornhäus-r, Vich- 
t haften, Viehzentralen usw. Doch sind bei ihnen Wirksamkeit und Erfolge 
  
  
problematischer. 
Die Erhaltung und möglichste Vermehrung des Bauernstandes bildet in der Regel, jedenfa!ls 
für Deutschland angesichts der zu grossen Ausdehnung des Grossgrundbesitzes im Ossen, ein hervor- 
ragendes nationalwirtschaftliches Interesse. Denn Vorherrschaft des Grossgrundbesitzes entvölkert
	        
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