Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
Julius Pierstorff, Die Frau in der Wirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. 109 
  
  
  
  
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lungen, denen frühere Zeiten nichts Ähnliches an die Seite zu stellen vermögen, sind zweifellos 
zum Teil veranlasst und getragen durch die individualistische Geistesrichtung der Zeit, welche die 
höhere Bewertung der Persönlichkeit schliesslich auch auf das weibliche Geschlecht erstreckte und 
eine andere Auffassung des Verhältnisses der Geschlechter zu einander herbeiführte. Sie hätten aber 
in dem Umfange, in dem sie sich vollzogen, nicht eintreten können, wenn sie nicht in der Haupt- 
sache durch eime Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse geradezu erzwungen worden 
wären. 
Während seit dem Mittelalter die Verwendung der weiblichen Kräfte im wesentlichen in Land 
und Stadt auf die meist naturalwirtschaftlich gebundene Hauswirtschaft beschränkt war, im zünf- 
tigen Handwerk sogar die weibliche Gewerbsarbeit, soweit sie von früher her hier bestand, im Laufe 
der Zeit planmässig mehr und mehr sich zurückgedrängt sah, änderte sich die Sachlage mit dem Vor- 
drängen der Manufakturen und Fabriken und ihrer weitgehenden Arbeitszerlegung. Wenigstens 
auf dem Gebiete der Textilindustrie wurden zuerst im Hause, dann auch in gemeinsamen Arbeits- 
stätten zunächst Frauen und Mädchen der untersten Klassen in wachsendem Masse gewerblich 
beschäftigt. Vollends die zuerst in England seit Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommendeMaschinen- 
verwendung bewirkte eine Zunahme weiblicher Fabrikarbeit, die sich ebenso wie die Kinder- 
arbeit auch ihrer grösseren Billigkeit wegen empfahl. Von dort aus verbreitete sie sich weiter über 
andere Industriezweige, besonders über den Bergbau. Mit dem Vordringen des modernen Kapitalis- 
mus nahm die im 18. Jahrhundert begonnene Entwicklung von England aus ım 19. Jahrhundert 
ihren Weg zu allen modernen Industriestaaten. Unter der anfänglich schrankenlosen Herrschaft 
einer rein individualistischen Wirtschaftsordnung führte dies zu einer antisozialen rücksichtslosen 
Ausbeutung der weiblichen Arbeitskräfte. Physische und moralische Degenerierung, und in 
Verbindung damit eine zunehmende Zerstörung des Familienlebens mit allen ihren verderb- 
lichen Wirkungen war die notwendige Folge dieser Zustände. Neben der Fabrikarbeit erhielt und 
entwickelte sich die gewerbliche Frauenarbeit in der Hausindustrie, welche zwar die Frauen nicht 
dem Hause, wohl aber der Hauswirtschaft entzog, indem sie dieselben meistens zu mehr und minder 
gedrückten Löhnen beschäftigte. So bildete sich im Zusammenhange mit der modern städtischen 
Entwicklung eine neue, meist grossstädtische Hausindustrie, besonders auf dem Gebiete der Kon- 
fektion aus, welche der alten ländlichen Hausindustrie zur Seite trat. 
Den Schutz der ın Industrie und Gewerbe beschäftigten Lohnarbeiterinnen gegen über- 
mässige und sozialschädliche Ausbeutung ihrer Arbeitskraft wurde eine der wichtigsten Aufgaben 
der Arbeiterschutzgesetzgebung, welche, wie die moderne industrielle Frauenarbeit selbst, von 
England ihren Ausgang nahm. 
Anders als in der Arbeiterklasse entwickelte sich die Frauenarbeit in den mittleren Schichten 
der Bevölkerung. Immer mehr gewann neben dem vom selbständigen Erwerbe lebenden Bürgertume 
der auf Gehalt angewiesene Öffentliche und private Beamtenstand an Umfang und Bedeutung. 
Während mit der Ausbreitung der modernen Geldwirtschaft die alte Haus- und Familienwirtschaft 
mehr und mehr ihres produktiven Inhalts beraubt und auf blosse Konsumwirtschaft beschränkt 
wurde, verringerte sich ın gleichem Masse die Möglichkeit ausser der Hausfrau weitere we bliche 
Familienglieder nutzbringend zu verwerten. So wurden Frauenkräfte in wachsendem Masse freige- 
setzt, zumal in diesen Kreisen die Aussichten, in der Ehe Lebensaufgabe und Versorgung zu finden, 
sich stark verminderten. Bei fehlendem oder unzureichendem Vermögen entstand oft bittere Not. 
Da aber in den Anschauungen undSittendieserSchichten das Ideal der allmählich dahin schwindenden 
alten und reicheren Hauswirtschaft noch immer fortwirkte, bedurfte es längerer Zeit, bis der Bann 
gebrochen und die Notwendigkeit, für die Haustöchter Lebensunterhalt und vor allem auch Erwerb 
im Berufsarbeit ausserhalb des Hauses zu suchen, erkannt und anerkannt wurde. Diese Wandlung 
der Anschauungen und Sitten herbeigeführt zu haben, ist das dauernde Verdienst der sogen. bürger- 
lichen Frauenbewegung, welche in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ın England und Deutsch- 
land einsetzte. Zugleich wirkte sie hier wie in anderen Ländern mit erfolgreichem Nachdruck 
nicht nur für eine Erschliessung neuer Berufe, sondern auch für eine Erweiterung und Reform 
der Frauenbildung behufs Steigerung der weiblichen Erwerbsfähigkeit. In diesen Rahmen ge- 
hören auch die schliesslich mit Erfolg gekrönten Bestrebungen, welche auf die Zulassung der 
  
  
  
  
    
    
  
  
 
	        
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