Georg Kerschensteiner, Die Volksschule.
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stand wahren. ‚Die höhere Staatsgewalt, die sich im 18. Jahrhundert in umfangreichen Schul-
ordnungen äusserte, konnte die kirchliche Souveränität nicht depositieren, wohl aber mediatisieren.“
(Rudolf von Gneist.)
In der Übertragung der Schullast auf die Gemeinden haben wir es gleich-
falls mit einer historischen Notwendigkeit zu tun. Als in Deutschland die einzelnen Staaten
zum Schulzwange übergingen, waren sie infolge des dreissigjährigen Krieges und insbesondere
Preussen auch infolge des siebenjährigen Krieges blutarme Staaten. Man musste die Mittel auf-
bringen, wo und wie es ging. Die alten Küsterwohnungen wurden als Schulräume beibehalten, die
altgewohnten Naturalabgaben, Hand- und Spanndienste konnten auch diesem Zwecke zugeführt
werden, Gutsherrschaften konnten zu kleinen Beiträgen angehalten werden, bescheidene Schul-
gelder mussten helfen und so wurden die Kommunen Träger der Ausgaben. ‚Zu den alten Pflichten
des Kommunalverbandes (Polizeilast, Wegelast, Armenlast) tritt nunmehr auch die Schullast.“
Aus dieser historischen Entwicklung heraus und nur aus dieser, ist der Stand des Volks-
schulwesens in Deutschland heute verständlich. Vor allem ist es begreiflich, dass nur wenige deutsche
Staaten, und vor allem nicht die grösseren Staaten, wie Preussen und Bayern, vollendete Schul-
gesetze haben. Denn dieser Schulgesetzgebung stehen heute noch ın grossen, paritätisch stark
gemischten Staaten schwere Hindernisse entgegen, von denen nicht bloss die grossen Ansprüche,
welche die Kirchen auf den Einfluss des Schulregimentes machen und die Schwierigkeit der Be-
schaffung der Geldmittel für ein gut ausgebautes Volksschulsystem hervorzuheben sınd, sondern
vor allem auch die politischen Parteibildungen und die ungenügende Klärung der Vorstellungen
von dem Umfange, den Zwecken und den Aufgaben der Volksschule selbst. Im allgemeinen helfen
sich die meisten Staaten mit beweglichen Verordnungen und verzichten auf die Form von Ver-
waltungsgesetzen, da ja ersichtlich der Boden für solche, namentlich auf kirchenpolitischem Gebiete,
noch nicht bereitet ıst. Einzelne Staaten haben sich auch damit geholfen, dass sıe Gesetzesent-
würfe, welche deä&usseren Verhältnisse der Volksschule regeln, in Angriff genommen haben und
auf jene vorläufig verzichten, welche die schwierige Materie derinneren Verhältnisse behandeln.
In den grösseren deutschen Staaten sind für das Volksschulunterrichtswesen folgende Be-
stimmungen massgebend:
In Preussen, abgesehen von dem General-Landschul-Reglement Friedrich d. Gr. von
1763, das allgemeine Landrecht von 1794, von dem einzelne Bestimmungen durch das Schulaufsichts-
gesetz von 1872 und das Schulunterhaltungsgesetz von 1906 ersetzt wurden; weiterhin dıe Artikel
20—26 der preussischen Verfassungsurkunde von 1850 und eine Anzahl spezieller Regulative und
Schulordnungen für ältere oder auch später einverleibte Provinzen. In Bayern ist vor allem
Massgebend das Schulbedarfsgesetz von 1902, die Schulpflichtsverordnung vom Jahre 1903 mit
Ergänzungen vom Jahre 1907 und die Verordnung vom Jahre 1905 über Gründung, Leitung und
Beaufsichtigung von Erziehungs- und Unterrichtsanstalten. Für Sachsen ist massgebend das
Volksschulgesetz von 1875. Dieser Staat bereitet gegenwärtig einen neuen Entwurf vor. Für
Württemberg gilt das neue Volksschulgesetz vom Jahre 1909, für Baden das
Volksschulgesetz von 1868, das allerdings später durch eine Reihe von gesetzgeberischen
Massnahmen abgeändert und ergänzt wurde. Am 18. Juni 1910 haben die Kammern den
Eintwuri eines neuen Schulgesetzes angenommen. Das hessische Volksschulgesetz wurde
1874 erlassen. Von den kleineren Staaten ist insbesondere das neue Volksschulgesetz des
Herzogtums Sachsen-Meiningen von Bedeutung, das im Jahre 1908 erlassen wurde,
und ebenso das Schulgesetz, welches dasaltenburgische Schulwesen regelt, vom Aprıl 1889.
Von den deutschen Staaten sind die beiden Mecklenburg die einzigen, welche keine Materie
durch ırgend ein Schulgesetz geregelt haben.
Die wesentlichen Angelegenheiten, welche durch diese Gesetze teils in ihrer Gesamtheit, teıls
einzeln behandelt werden, sind die Fragen der Schulpflicht und der Klassen-
bıldung, der Schulunterhaltungspflicht, der Schulaufsicht, der
Konfessionalität, der Lehrerbildung und Lehrerbesoldung, der
Aufgabe und des Lehrplanes der Schulen.