Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

Georg Kerschensteiner, Die Volksschule. 
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Leben der Volksschule ergreift, etwa dıe gesetzlichen Lehrpläne, ‚dann ist das Verfassungs- 
system des chinesischen Reiches auf dem Gebiete des Schulwesens nicht mehr fern.“ 
Die Schulaufsicht. Eine schwierige Materie für gesetzliche Regelung ist von jeher 
die Schulaufsicht gewesen. Denn gerade hier machen sich die kirchlichen Anschauungen am stärk- 
sten geltend. Die katholische Kirche leitet ‚aus dem prinzipalen, der Kirche kraft göttlichen Rechts 
zukommendem Recht auf christliche Erziehung der heranwachsenden Jugend direkt das akzesso- 
rische Recht ab, allen übrigen Unterricht der Jugend in massgebender Weise zu bestimmen und zu 
leiten“. (Hinschius, Kirchenrecht IV, 573.) Die Ansprüche der strenggläubigen evangelischen 
Kirche stehen nur wenig hinter den Ansprüchen der strenggläubigen katholischen Kirche. Um 
der kirchlichen Herrschaft über die Volkserziehung freie Bahn zu machen, hat in Belgien die katho- 
lische Kirche sogar ein verfassungsmässiges Verbot des Schulzwanges durchgesetzt. Wie Rudolf 
von Gneist ausführt, eröffnete auch Dr. Windthorst den Feldzug gegen das preussische Schulsystem 
sehr sachgemäss mit einem Probestoss gegen den Schulzwang. Und erst, als er sah, dass keine Aus- 
sicht auf einen Sieg vorhanden war, lıess es der kluge Taktiker bei dem Probestoss bewenden und 
wählte den in der belgischen Praxis bewährten Seitenangriff vom Prinzip der Unterrichts- 
freiheit (enseignement lıbre), das heisst der Freiheit von jeder staatlichen Bevormundung und 
Aufsicht. Indes ıst ım allgemeinen nach dem gegenwärtigen Stand der Schulgesetzgebung in 
Deutschland nur in der untersten Instanz, in der Ortschulaufsicht, die geistliche Schulaufsicht 
aufrecht erhalten, so in Preussen, Bayern, Sachsen, Oldenburg, Waldeck, Schwarzburg-Rudolstadt. 
Dagegen ist sie auch hier (wie in allen germanischen Staaten ohne Ausnahme) beseitigt in Baden, 
Hessen, Weimar, Gotha, Koburg, Meiningen, Altenburg, Anhalt, Reuss j. L., Hamburg, Lübeck, 
Bremen. Schulvorstandschaften kırchlich konfessionellen Charakters, nach Konfessionen getrennt, 
mit einem Geistlichen an der Spitze, sind in den meisten deutschen Staaten durch die neuere Schul- 
gesetzgebung beseitigt worden. Häufig ist allerdings der Pfarrer Mit-Vorsitzender oder I. Vor- 
sitzender des Schulvorstandes. In Preussen hat das Schulunterhaltungsgesetz von 1906 eine einheit- 
liche Regelung für die kommunalen Schulbehörden gebracht. In Bayern sınd dıe Hauptnormen 
für die Bildung von Ortsschulbehörden durch Verordnung von 1821 und Ministerialerlass von 1897 
gegeben. In Württemberg sind, wo es notwendig ist, die Ortsschulbehörden konfessionell getrennt. 
In den meisten der kleineren Staaten führt der Bürgermeister den Vorsitz. Über den Ortsschul- 
behörden stehen die Kreis- oder Bezirksschulbehörden, über diesen die Landes- oder Regierungs- 
behörden und über allen die Unterrichtsverwaltung, das Ministerium. In allen dıesen höheren In- 
stanzen ist die staatliche Schulaufsicht in Deutschland nahezu vollkommen durchgeführt, wobei es 
aber z. B. das preussische Schulaufsichtsgesetz von 1872 den Regierungen überlässt, ob sie Geist- 
liche, Verwaltungsbeamte oder Pädagogen mit der Funktion des staatlichen Schulinspektors be- 
trauen wollen. In den meisten Staaten sind diese Kreisschulinspektoren hauptamtlich angestellt, 
so in Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen-Weimar, Sachsen- Altenburg, Sachsen- 
Koburg-Gotha, Sachsen-Meiningen, Schaumburg-Lippe, Bremen, Hamburg, Lübeck, Elsass- 
Lothringen. In Preussen ist etwa ein Drittel der Kreisschulinspektoren hauptamtlich verwendet. 
  
  
  
Konfessionalität. Den stärksten Streit der Meinungen hat aber in Deutschland die 
Frage der Konfessionalität der Volksschule entfacht. Vor 100 Jahren war diese Frage nıcht ent- 
fernt so brennend als heute. War die Simultanschule auch nicht die ausgesprochene Norm in den 
meisten Staaten, so standen doch die Regierungen im wesentlichen inbezug auf die Koniessionalıtät 
der Schule auf einem neutralen Standpunkte. Nach dem heute noch geltenden preussischen Land- 
recht gab es in Preussen, wie Rudolf von Gneist klar beweist, bis zum Schulbedarisgesetz von 1906 
keine konfessionelle Schule, keine Simultanschüule, keine konfessionslose Schule, keine interkon- 
fessionelle Schule, sondern einfach ‚‚nur eine gemeinschaftliche Schule der weltlichen Gemeinden 
(mit Parallelklassen für den Religionsunterricht) unter geordneter Aufsicht der Staatsbehörden”. 
Die neueren Gesetze haben gerade in den beiden grössten Staaten Preussen und Bayern das kon- 
fessionelle Moment wieder stärker betont. Nur in kleineren Staaten ist die Simultanschule gesetzlich 
eingeführt, so in Baden, Hessen, Weimar, Meiningen. Eine besondere Eigentümlichkeit ıst die 
nassauische Simultanschule des ehemaligen Herzogtums Nassau, die sich von der Simultanschule
	        
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