126 Georg Kerschensteiner, Die Volksschule.
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weniger, als sie haben würden, wenn sie in einer beliebigen preussischen Stadt die Volksschule acht
Jahre lang besuchen würden und sogar noch 600 Stunden weniger, als bei einem nur siebenjährigen
Besuch einer bayerischen Volksschule.
Lehrerbildung und Lehrerbesoldung. Um die Aufgabe der Volksschule: sittlich
gerichtete und für das praktische Leben brauchbare Staatsbürger auszubilden, zu erfüllen,
haben sich die deutschen Bundesstaaten seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auch immer mehr
der Lehrerbildung angenommen. Die Organısation der Lehrerbildungsanstalten ist im Deutschen
Reiche nicht wesentlich verschieden. Sıe schliessen sıch unmittelbar an dıe Volksschule an und er-
strecken sich auf 5, 6 oder 7 Jahre. Das Unterscheidende der deutschen Lehrerbildung von der
Lehrerbildung anderer germanischer Staaten ıst, dass sie von Anbeginn an In speziellen
Unterrichtsanstalten erfolgt. Diese Massnahme war so lange notwendig, als die geringen Bezah-
lungen und die untergeordnete Stellung der Volksschullehrer begabte und halbwegs bemittelte
Schüler abhielten, nach Absolvierung der höheren, allgemein bildenden Lehranstalten sich dem
Volksschullehrerberuf zuzuwenden. Das hat sich heute in vielen Bundesstaaten geändert. Man
könnte sehr wohl die deutsche sechsklassige Realschule als Grundlage für das auf drei Jahre auszu-
dehnende Lehrerseminar benützen, wodurch sicherlich- ein Hauptwunsch der deutschen Lehrer-
schaft nach grösserer Vertiefung ihrer Bildung erfüllt würde. Heute dagegen geht dernormale
Weg, der in den Lehrerberuf führt, zunächst durch eine dreijährige, nur für angehende Schul-
lehrer zugängliche Präparandenschule, die sich an die sieben- oder achtklassige Volksschule
unmittelbsr anschliesst. Auf diese Pıäparandenschule folgt alsdann ein zwei- oder dreijähriges
Lehrerseminar, nach dessen Absolvierung der junge 18 bis 19jährıge Schüler unmittelbar ın
die Praxis eintreten kann, und überal!, wo Lehrermangel herrscht, auch wirklich eintritt.
Was die Besoldung betrifft, so ıst sie gerade im letzten Dezennium nicht unbeträchtlich ge-
wachsen und man kann heute wohl behaupten, dass der deutsche Volksschullehrer im Durchschnitt
der bestbezahlte Volksschullehrer von allen Kulturstaaten ıst, wenn auch noch vieles zu wünschen
übrig bleibt, wenigstens für den Landlehrer einzelner Staaten. Im einzelnen auf die Gehaltsver-
hältnisse einzugehen, ist bei der Mannigfaltigkeit dieser Verhältnisse unmöglich. Der niedrigste
bezug des definitiven Lehrers dürfte heute mit 1500 M. anzusetzen sein, der höchste (München)
mit 5520 M. In den meisten Fällen ist der Gesamtbezug pensionsfähig und zwar von 30—75%,.
Schluss. Betrachtet man die Entwicklung des deutschen Volksschulwesens im Laufe
des 19. Jahrhunderts, so kann man nicht in Abrede stellen, dass sie eine durchaus erfreuliche ist.
Nichtsdestoweniger entspricht die heutige Volksschule nicht mehr den völlig veränderten sozialen,
wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen des Deutschen Reiches, die einesteils eine grosse
Menge alter Erziehungskräfte aufgelöst haben und andernteils an den einzelnen Staatsbürger kraft
seiner politischen Rechte, die ihm das 19. Jahrhundert gebracht hat. sehr viel badeutendere An-
forderungen in bezug auf seine Einsicht und Charakterbildung stellen. Das 20. Jahrhundert wird die
grosse Aufgabe zu lösen haben, durch eine Umwandlung der inneren Organisation der Volks-
schule auf der Grundlage des oben erwähnten Prinzips der Aktivität und durch eine wırksame
Ausgestaltung der Fortbildungsschule bis zum 18. Lebensjahr, die als ein integrierender
Bestandteil des Volksbildungswesens betrachtet werden muss, jene schweren Mängel zu beheben,
die heute die achtklassige Volksschule bei aller Fürsorge, welche ihr die Staaten zugewendet
haben, und bei allen Opfern, die für sie gebracht werden, noch aufweist.