Peter Jessen, Kunsptflege und Kunsterziehung. 169
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wendiges Erziehungsmittel für jedermann. Man hat es neuerdings, englischen und amerikanischen
Vorgängen folgend, auf freiere Methoden begründet und dadurch volkstümlicher gemacht.
Das Zeichnen, welches vorwiegend der Beobachtungdient, sollteergänztwerdendurch Hand-
arbeit, die zum Gestalten anleitet. Auge und Hand durch eigene Tätigkeit an Zweckaufgaben
und gediegenem Material zu üben und dadurch die einseitig geistige Schularbeit zu ergänzen, wird
seit hundert Jahren von den grossen Pädagogen empfohlen, seit einem Menschenalter ım Ausland,
besonders in Skandinavien und Amerika, geübt und, noch zu zaghaft, in Deutschland erstrebt.
Die Handarbeit der Mädchen, die zum festen Lehrplan gehört, hat seit kurzem ıhre Ziele und
Wege handwerklich und künstlerisch reformiert.!7) Um die Einführung der Handarbeit für Knaben
als Werkunterricht auf den Unterstufen und als gediegene Handfertigkeit für dıe älteren Schüler
kämpft der Deutsche Verein für Knabenhandarbeit (Sıtz Leipzig) unter seinem Vorsitzenden E. von
Schenckendorff.
Um den Sinn der Kinder auf Form und Farbe zu richten, wendet man dem Baudes
Schulhauses und der Ausstattung der Schulzıimmer wachsende Sorgfalt zu.
War früher das Schulhaus oft der nüchternste, ja ödeste Bau in der ganzen Gemeinde, so sucht man
jetzt ın Stadt und Land das Haus und seine Räume ansprechend, einladend, freundlich und farbig
zu bilden; oft ohne erhebliche Mehrkosten, nur durch den Geschmack berufener künstlerischer
Kräfte.18) Einzelne Schulbauten gehören zu den besten Schöpfungen unserer führenden Archı-
tekten. In der deutschen Unterrichtsabteilung auf der Weltausstellung ın Brüssel zeigten wir die
geschmackvollsten Schulzimmer nach der Zeichnung bester Raumkünstler.
In die freie Kunst sollder Wandschmuck einführen, der für Schule und Haus zu wohl-
fellen Preisen geschaffen worden ist. Nachbildungen bester Kunstwerke alter und neuer Meister,
Gemälde, Zeichnungen und Bildwerke, stehen neben farbigen Originalbildern heutiger Künstler,
dıe meist für Steindruck eigenhändig gezeichnet. worden sind. Ob diese Bilder, im Schulhaus auf-
gehängt, lediglich durch sich selber wirken sollen, oder ob der Lehrende diese und andere Kunstwerke
durch vorsichtige, geschmackvolle Erläuterung den Kindern nahe bringen soll, wird viel erörtert.
Hier wıe beı allem, was dıe Kunst berührt, kommt es letzten Endes auf die Persönlichkeit an.
Bilderbücher und Spielzeug neuerer Art möchten in der Kinderstube in gleichem Sinne wirken.
Schwerer als dıe Schuljugend ıst das Volk ın seinen weiteren Schichten zu fassen. Es
gıbt Idealisten, die auf eine Erneuerung der alten Volkskunst hoffen, wie sie einst das Volk besonders
auf dem Lande übte; darauf ist leider im Zeitalter der Zeitungen wenig Aussicht. Auch der Dilettan-
tısmus wird sıch in die Bahnen besseren Geschmackes leiten lassen, wıe ein Teil neuerer Frauenarbeit
bekundet; aber einer Ausbreitung, namentlich in der Männerwelt, ist die Zeit wenig günstig. Er-
freuliche Versuche macht in Hamburg die Gesellschaft Hamburgischer Kunstfreunde.!?) Auch die
Führungen ın den Museen werden immer nur einzelnen Hörern zu selbständigem Erfassen der Pro-
bleme verhelfen können und nur wenigen zugute kommen. Dagegen soll man nicht unterschätzen,
wie viel auf diesen und anderen Wegen, durch Vorträge, Volksabende, populäre Kunstausstellungen,
billige und gute Bilder, durch Geschmack in den Aufgaben des täglichen Lebens, den Drucksachen,
den Schaufenstern, vor allem in den Werken des Kunstgewerbes, der Baukunst und der öffentlich
sichtbaren freien Künste langsam, aber stetig an neuen Massstäben für Form und Farbe hingestellt
und verbreitet wird. In diesem weiteren Sınne betrachtet, stellt die Kunstpflege immer neue Ziele
und bietet für die ernste Mitarbeit vıelen Kräften Raum, den Einzelnen wie den Gemeinschaften.
Wer die Sehnsucht der Volksschichten kennt, die sich heute durch eine tiefe Kluft von den sogenann-
ten Gebildeten getrennt fühlen, darf auch die wohlverstandene Kunst für eine Brücke ansehen,
dıe zu schlagen und auszubauen eine soziale Pflicht ist. Dann mögen der hoffnungslose künst-
lerische Unverstand und üble Wille, denen man oft in den oberen Schichten begegnet, sich selber
überlassen bleiben.
17) Margot Grupe, Die neue Nadelarbeit. Berlin 1910. — Aus der Praxis der Knaben und Mädchen-
handarbeit, hrsg. L. Pallat. Leipzig, seit 1910.
18) Das Schulhaus. Zentralorgan für Bau, Einrichtung und Ausstattung der Schulen. (Seit 1899) Char-
lottenburg, Schulhausverlag.
19) Lichtwark, Wege und Ziele des Dilettantismus, und andere Schriften.