190 Chr. J. Klumker, Armenpolitik.
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Armen werden andere Volksschichten ‚benachteiligt und der Armut näher gebracht. Alle Armen-
pflege schafft an anderer Stelle die Armut, der sıe an der einen abhilft.
So kann auch die Arbeıt nıcht als Form der Unterstützung in Betracht kommen. Die Be-
schäftigung, die ich den Bedürftigen zuweise, nehme ıch dem freien Arbeiter fort. Sind alle Arbeits-
plätze besetzt — wıe dies je nach dem die segensreiche oder unheilvolle Folge der Bevölkerungs-
bewegung ist —, so ıst keine Vermehrung der Arbeitsgelegenheit möglich; sie wird stets nur eine
Verschiebung der Arbeit herbeiführen, dıe das Mass der Armut, die Zahl der Armen nicht vermindern
kann. Die Armut mıt Not und Elend ıst wıe das unentbehrliche Hemmnis zu rascher Vermehrung
so zugleich der nützliche Ansporn jedes Fortschrittes.
Daraus ergibt sıch als Ziel der Armenpolitik, möglıchste Verminderung der Armenpflege.
Man mag immerhin jenen Ausscheidungsprozess in seinen Formen ein wenig mildern, auf keinen
Fall darf man ihm aufhalten oder mindern. Daher Beseitigung staatlicher Armenpflege, vorsichtige
Beschränkung des gefährlichen Trıebes freier Mildtätigkeit. Diese Gedankengänge haben nicht nur
die Armengesetzgebung Englands, sondern der meisten Staaten gestalten helfen; In den Beratungen
der Armengesetze des Deutschen Reiches ertönen sıe um 1870 noch ebenso, wie in denen des englischen
Armengesetzes von 1834.
Im tiefsten Grunde liegt unter solchen Gedankengängen die Anschauung, dass die Armen als
Ergebnis einer im grossen und ganzen sehr zweckmässigen Auslese aus der Gesellschaft ausgeschieden
würden, dass sie minderwertig, vielleicht wertlos seien. Diese Ansicht hat seit Malthus selbst dort
stark eingewirkt, wo man dem Mitleid, der christlichen Liebe und ähnlichen Antrieben auf die
Gestaltung der Armenpflege reichlichen Einfluss zugestand.
Aus der Tatsache, dass dıe Armen der wirtschaftlich unfähige Teil der Gesellschaft sind, wird
hierbei ohne weiteres geschlossen, dass sie im allgemeinen minderwertig seien. Allein Unwirtschaft-
lichkeit ist ein sehr verwickelter Begriff, der sich aus den verschiedensten Teilen zusammensetzt
und sehr wesentlich von der psychologischen Verfassung des jeweiligen Wirtschaftssystems beein-
flusst wird. Ist Wirtschaftlichkeit ın unserem Sinn dıe Gesamtheit der Fähigkeiten, durch die sıch
der einzelne selbständig ın irgend einem Wiırtschaftssystem erhalten kann, und ıst Verarmung die
Folge der Unwirtschaftlichkeit, so beruht jene ältere Beurteilung der Armut darauf, dass die Wirt-
schaftlichkeit für die höchste aller gesellschaftlichen Tugenden angesehen, also bedenklich über-
schätzt wird, und dass die Unwirtschaftlichkeit für einen eindeutigen Begriff, der gesell-
schaftlich auf jeden Fall und unter allen Umständen verwerflich sei. Jener erste Fehler vergisst,
dass wirtschaftliche Entwicklung ohne höhere geistige Entwicklung aller Art nicht denkbar
ist, dass für den Gesamtfortschritt der Menschheit die geistigen Güter einen entscheidenden
Wert besitzen, dem sich die wirtschaftlichen als Hilfsmittel unterordnen müssen. Vielfach wider-
streiten höhere geistige Anlagen stark der Wiırtschaftlichkeit und bilden sıch oft nur unter Zurück-
drängung wirtschaftlicher Erwägungen aus. Die grosse Masse der Bevölkerung aber wırd kaum Je
in solchem Umfange für die Sicherheit ıhrer wırtschaftlichen Existenz sorgen können, dass bei voller
Ausbildung der Wirtschaftlichkeit wıe wır sie oft wünschen genügend Kraft und Zeit für höhere
Ausbildung übrig bliebe. Höhere Bedürfnisse können hier, wenn sıe überhaupt einigermassen zur
Geltung kommen sollen, wodurch.doch allein ein Aufsteigen dieser Schichten möglıch wırd, nur auf
Kosten wirtschaftlicher Erwägungen befriedigt werden, ein Verfahren, das nicht selten dann zu
wirtschaftlichen Schwierigkeiten, ja zur Verarmung führt. Bei der Beurteilung der Verarmung als
gesellschaftlicher Erscheinung darf man dies nicht ausser acht lassen. Bestimmte Volksschichten
werden je nach ihrer wirtschaftlichen Lage nur ein ganz bestimmtes Mass an Wirtschaftlichkeit
leisten können und dürfen — wenn man von einzelnen Ausnahmen absıeht. Würde ıhr wirtschaft-
licher Blick sämtliche Wechselfälle der Zukunft mit in Betracht zıeher, so würde mit diesem Mass an
Unsicherheit jeder Mut und jede Lebenslust erstickt werden.
Die Unwirtschaftlichkeit ist aber abgesehen von ihrem Verhältnis zu den höheren Fähigkeiten
des Menschen auch in sich mehrdeutig. Die Fähigkeit zu gütererzeugender Tätigkeit, dıe Fähigkeit
diese Tätigkeit zum Erwerb für sich selbst zu benutzen, die richtige Verwendung des Erworbenen
im eigenen Haushalt, das sind drei verschiedene Fähigkeiten, die in höchst verschiedenem Masse
beim einzelnen vorhanden sind. Die Unwirtschaftlichkeit in jeder dieser einzelnen Richtungen kann