Franz von Liszt, Strafrechtsreform. 197
festigte Ergebnisse konnten jene Erörterungen jedoch nicht zutage fördern, da es dem achtzehnten
Jahrhundert an den auch hier unentbehrlichen sicheren Methoden fehlte. Diese hat erst das neun-
zehnte Jahrhundert geschaffen. Zuerst durch die Anwendung der systematischen Massenbeobachtung
auf das Gebiet der Kriminalität, also durch die Schaffung einer zuverlässigen Krıimınalstatis-
tik. Ihre Entwicklung wird durch die Namen Quetelet (F 1874), Alexander von Oettingen (7 1905)
und Georg von Mayr (Professor in München) gekennzeichnet. Dann aber durch die naturwissen-
schaftliche Untersuchung des einzelnen Verbrechers, also durch Ausbildung emer Krımınal-
anthropologiıe. Diese knüpft, wenn wır von zahlreichen deutschen und ausserdeutschen Vor-
läufern absehen, insbesondere an den Namen Lombroso’s (7 1909) an, dessen Hauptwerk, der ‚‚uomo
delinquente‘, in den siebziger Jahren der Öffentlichkeit übergeben wurde. Durch die Zusammen-
fassung dieser beiden gleich wichtigen Zweige der Kriminalätiologie, wıe sie zuerst ın der neueren
deutschen Strafrechtswissenschaft vollzogen worden ist, wurde erst die Aufstellung eines
Systems der Krıiminal-Polıtık möglich gemacht. Für dıese ergab sıch von allem Anfang an
nach zwei Richtungen hin eine wesentliche veränderte Auffassung der Strafe. Einmal drängte sich
unabweislich die Erkenntnis auf, dass die letzten Wurzeln des Verbrechens, mögen sie in den gesell-
schaftlichen Verhältnissen, mögen sıe ın der körperlich-geistlichen Eigenart des Verbrechers über-
wiegend liegen, durch dıe Strafe überhaupt nicht getroffen werden, dass mithin die Strafe nicht das
einzige Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens, sordern nur eines dieser Mittel, und lange nicht das
wichtigste ist. Dann aber machte sıch die Forderung geltend, dass dıe Strafe, wıe sie im geltenden
Recht angedroht und vollstreckt wırd, einer durchgehenden Umgestaltung bedürfe, wenn sie ihren
Zweck, der Bekämpfung des Verbrechens auf dem ıhr auch für die Zukunft eigenen Gebiete zu dienen,
auch wirklich erreichen wolle.
Die deutschen Wissenschaft 1st stets bereit gewesen, die Anregungen dankbar anzuerkennen,
die sie durch ausserdeutsche Forscher empfangen hat. Sie hat aber auch das Recht wie die Pflicht,
die ihr gebührenden Verdienste für sich in Anspruch zu nehmen, Es ist eine gröbliche Entstellung
geschichtlich feststehender Tatsachen, wenn, wıe das von Gretener behauptet und von anderen
nachgesprochen worden ist, die deutsche Reformbewegung auf den Einfluss der Italiener zurückge-
führt wird. Ich sehe hier ganz davon ab, dass die italienische Kriminalanthropologen, mit ihnen
auch der erst seit den achtziger Jahren literarisch tätige Enrico Ferri, anfänglıch einseitig den indi-
viduellen Faktor des Verbrechens ın den Vordergrund gestellt und erst allmählich dem gesellschaft-
lichen Faktor die volle Gleichberechtigung zugestanden haben. Entscheidend ist vielmehr, dass,
lang ehe in Italien dıe krıminalanthropologische Richtung entstanden war, deutsche Schrift-
steller die Grundlage für das System der Kriminalpolitik gelegt hatten. Ich nenne von ıhnen an dieser
Stelle nur Franz von Holtzendorff (T 1889) und meinen Lehrer, den (1901 verstorbenen) Wiener
Professor Wilhelm Wahlberg, dessen Hauptwerk schon im Jahre 1869 erschienen ıst. An Wahlbergs
Unterscheidung von Gewohnheits- und Gelegenheitsverbrechern knüpft meine Einteilung der Ver-
brecher und damit mein ganzes kriminalpolitisches System an; nicht aber, soviel ich ihnen auch zu
danken habe, an die Lehren Lombroso’s oder Ferri’s. Es sei weiter hingewiesen auf Rudolf v. Ihering
(7 1892), dessen „Zweck ım Recht‘ (1877) auf mich, wıe auf gar manchen unter den Jüngeren der
damaligen Kriminalisten, von bestimmendem Einfluss geworden ist.
Der Kampf gegen die bestehende Strafgesetzgebung war in Deutschland bereits 1879 auf der
ganzen Linie entbrannt. Der Reichsgerichtsrat Mittelstädt hatte ın flammenden Worten das herr-
schende System angegriffen; der damals vierundzwanzigjährige Psychiater Kräpelin schon 1880
dıe Abschaffung des Strafmasses und damit den Neubau der Kriminalpolitik ın rücksichtsloser
Folgerichtigkeit gefordert. Ende 1880 wurde von A. Dochow (T 1881) und mir die „Zeitschrift für
die gesamte Strafrechtswissenschaft‘ ins Leben gerufen, die schon durch ihren Titel die Notwendig-
keit betonte, über die bloss logısch-juristische Betrachtung von Verbrechen und Strafe hinauszu-
kommen. 1882 erschien mein Marburger Programm ‚Der Zweckgedanke im Strafrecht“, das die
sofort und unbedingt zu erfüllenden Forderungen in dem Satz zusammenfasste: ‚Unschädlıch-
machung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungs-
fähigen.“ Von da an brachte jedes Jahr eine unerwartet rasche Ausbreitung der Reformbewe-
gung; und zwar in Deutschland wıe ın den übrigen Ländern.