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Paul Laband, Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens.
Entscheidung in allen Sachen aber hatte der Reichskanzler; er hatte die Landesgesetze und kaiserl.
Verordnungen gegenzuzeichnen und er trug die parlamentarische Verantwortung dem Reichstage,
nicht dem Landesausschuss, gegenüber. Die räumliche Trennung zwischen dem Landesausschuss
in Strassburg und den obersten Regierungsbehörden ın Berlin war ein Missstand, welcher beseitigt
werden musste und da der Berg nicht zu Mahomed kam, musste Mahomed zum Berg kommen,
d. h. die oberste Regierungsbehörde musste nach Strassburg verlegt und dadurch zugleich das
schädliche Übermass von einander übergeordneten Instanzen, Oberpräsident, Reichskanzleramt
für Elsass-Lothringen und Reichskanzler beseitigt werden. Schon nach weiteren zwei Jahren
wurde daher das umfangreiche Gesetz vom 4. Juli 1879, betreffend die Verfassung und die Ver-
waltung Elsass-Lothringens erlassen, mit welchem die durch den Erlass vom 29. Oktober 1874 be-
gonnene Entwicklung für längere Zeit zum Abschluss kam.
Durch das Gesetz vom 4. Juli 1879 wurden alle Befugnisse und ÖObliegenheiten, welche durch
Gesetze und Verordnungen dem Reichskanzler in elsass-lothringischen Landesangelegenheiten über-
wiesen worden waren, demselben abgenommen und auf den in Strassburg residierenden Statthalter
übertragen. Dadurch schied der Reichskanzler aus der Verwaltung von Elsass-Lothringen aus; der
Statthalter trat an seine Stelle. Neben den Reichskanzler der Reichsverfassung trat ein zweiter
Reichskanzler für das Reichsland mit denselben Funktionen und derselben Verantwortlichkeit.
Dem Statthalter konnten Befugnisse übertragen werden, welche nach dem im Reichslande geltenden
Verwaltungsrecht vom Staatsoberhaupt, also vom Kaiser, auszuüben sind; dadurch wurde die Stel-
lung des Statthalters erhöht und mit einem besonderen Glanz umgeben. Für die Charakteris.erung
der staatsrechtlichen Stellung des Statthalters aber ist dies nicht entscheidend; denn die Über-
tragung landesherrlicher Befugnisse ıst fakultatıv, der Art und dem Umfang nach nicht bestimmt
und erfolgt für jeden Statthalter persönlich ; während der Übergang der Befugnisse und Pflichten des
Reichskanzlers auf den Statthalter durch Gesetz feststeht. Der Statthalter ıst kaiserlicher Minister,
nicht Vizekaiser. Ihm sind alle elsass-lothringischen Landesbehörden und Landesbeamten unter-
stellt.
Es wurde ferner eine neue Behörde mit dem Sitze in Strassburg unter der Bezeichnung
„Ministerium für Elsass-Lothringen“ errichtet, an dessen Spitze ein Staatssekretär steht. Auf diese
Behörde gingen über alle Obliegenheiten des Reichskanzleramts für Elsass-Lothringen und des
Oberpräsidiums, welche beide Behörden aufgelöst wurden; ferner die vom Reichsjustizamt ın der
Verwaltung des Reichslands ausgeübten Funktionen; endlich die im Beamtengesetz bezeichneten
Befugnisse des Bundesrats bezüglıch der Landesbeamten. Die Stellung des Staatssekretärs ent-
spricht derjenigen der Staatssekretäre der obersten Reichsämter. Hinsichtlich der mınısterı-
ellen Funktionen des Statthalters hat er die Rechte und die Verantwortlichkeit eines Stellver-
treters des Statthalters in dem Umfang, wie ein dem Reichskanzler nach dem Gesetz vom 17. März
1878 substituierter Stellvertreter sie hat. Die Anordnungen und Verfügungen, welche der Statt-
halter in Ausübung landesherrlicher Befugnisse trıfft, sind vom Staatssekretär gegenzu-
zeichnen. (Ges. $ 4.)
Zur Begutachtung der dem Landesausschuss vorzulegenden Gesetzentwürfe wurde aus An-
gehörigen des Reichslandes ein Staatsrat gebildet. (Ges. $$ 9, 10.)
Der Statthalter wurde ermächtigt, zur Vertretung der Vorlagen aus dem Bereiche der
Landesgesetzgebung sowie der Interessen Elsass-Lothringens bei Gegenständen der Reichsgesetz-
gebung Kommissare in den Bundesrat abzuordnen, welche an dessen Beratungen über diese An-
gelegenheiten teilnehmen, aber kein Stimmrecht haben. (Ges. $ 7.)
Die Zahl der Mitglieder des Landesausschusses wurde auf 58. erhöht, welche teils durch die
Bezirkstage, teils durch die Gemeinderäte der vier grossen Städte (Strassburg, Mülhausen, Metz
und Kolmar), teils indirekt durch Wahlmänner, welche die Gemeinderäte der anderen Gemeinden
ernennen, gewählt wurden. (Ges. $$ 12—14.)
Die Wahlen erfolgten in geheimer Abstimmung auf drei Jahre. Der Kaiser konnte den
Landesausschuss vertagen oder auflösen. Der Landesausschuss erhielt ausser den Rechten, welche
ihm bereits durch das Gesetz vom 2. Mai 1877 beigelegt waren, das Recht der Initiative innerhalb
des Bereichs der Landesgesetzgebung und das Recht, an ihn gerichtete Petitionen dem Ministerium