Paul Laband, Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens.
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man brauchte ja nur, wie dıes bereits in anderen Fällen geschehen war, zu einer Fiktion zu greifen
und den Satz aufzustellen: Das Reichsland gilt als Bundesstaat.
Aber nun kamen dıe praktischen Schwierigkeiten: Zunächst erhob sich die Frage, wer die
reichsländischen Bevollmächtigten instruieren solle. Da der Kaiser die Staatsgewalt in Elsass-
Lothringen ausübt, so wäre dıe von selbst gegebene, sozusagen natürliche Antwort gewesen: der
Kaiser. Aber dies hätte Folgen gehabt, die man vermeiden wollte. Entweder hätte nämlich der
Kaiser die elsass-lothringischen Stimmen in dem gleichen Sinne wie die preussischen instruiert;
alsdann wären die drei elsass-lothringischen Stimmen den preussischen zugewachsen, das Stimmen-
verhältnis der Reichsverfassung wäre zu Gunsten Preussens verändert worden und der Einfluss
der preussischen Regierung auf die elsass-lothringische hätte eine neue verfassungsrechtliche Grund-
lage erhalten. Oder der Kaiser hätte auf den Antrag der elsass-lothringischen Regierung die reichs-
ländischen Stimmen ım entgegengesetzten Sinne wie die preussischen abgeben lassen; dann hätte
er gegen sich selbst gestimmt, sein Votum als König von Preussen durch sein Votum als Kaiser teil-
weise aufgehoben; das wäre lächerlich und mit der Würde des Kaisers unvereinbar gewesen. Den
Ausweg aus diesem Dilemna fand man darin, dass der Statthalter den elsass-lothringischen
Bundesratsbevollmächtigten die Instruktion erteilt. Dadurch wurde einerseits die Zahl der preussı-
schen Stimmen formell nicht erhöht, andrerseits der Missstand vermieden, dass der Kaiser gegen
den König von Preussen, also gegen sich selbst stimmt.
Aber man konnte sich nicht verhehlen, dass dies nur eine formelle Abhilfe ist; der Statt-
halter kann in wichtigen Fragen seinem kaiserlichen Herrn nicht Opposition machen; er kann nıcht
— z. B. beim Abschluss von Handelsverträgen und anderen Angelegenheiten von wirtschaftlicher
Bedeutung — andere Tendenzen verfolgen wie der Reichskanzler; er hat nicht die Stellung eines
Landesherrn, sondern die eines kaiserlichen Ministers. Es war daher das schwierige Problem zu
lösen, Elsass-Lothringen Stimmen zu gewähren, ohne dadurch tatsächlich die preussischen
Stimmen im Bundesrat zu vermehren. Dieses Problem ist im Gesetz vom 21. Mai 1911 in der Art
gelöst worden, dass die elsass-lothringischen Stimmen nicht gezählt werden, wenn durch sıe Preussen
die Majorität oder wegen Stimmengleichheit den Stichentscheid erhalten würde und dass anderer-
seits sie gegen eine von Preussen beantragte oder befürwortete Verfassungsänderung nicht zur
Bildung der 14 Stimmen, denen ein Veto zusteht, dienen können. Sie werden also nur gezählt,
wenn Preussen ohne sie bereits die Majorität der Bundesratsstimmen für sich hat oder wenn durch
sie — was tatsächlich wohl niemals vorkommen wird — eine Majorität gegen die preussischen Stim-
men hergestellt wird. Ein Statthalter, welcher ein solches Resultat herbeiführt und seinen Kaiser
niederstimmt, dürfte wohl nicht mehr lange im Amt bleiben. Der politische Wert der elsass-loth-
ringischen Stimmen ıst daher problematisch und in keinem Falle gross; dagegen kann es unter
Umständen für die Geitendmachung besonderer elsass-lothringischer Interessen, z. B. der Fest-
stellung der Übergangssteuer für Bier, vom Nutzen sein, dass die elsass-lothringische Regierung
in einem oder mehreren Bundesratsausschüssen vertreten ist, obgleich es auch bisher an Mitteln zur
Wahrung dieser Interessen nicht gefehlt hat.
In dem Reichsgesetz vom 31. Mai 1911 haben diese Erwägungen folgende Fassung erhalten:
„Art. I. In die Reichsverfassung wird als Art. 6a folgende Vorschrift eingestellt:
„Elsass-Lothringen führt im Bundesrate drei Stimmen, so lange die Vorschriften im Art. II
„$ 1, $2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Verfassung Elsass-Lothringens vom 31. Maı 1911 ın
„Kraft sind.
„Die elsass-lothringischen Stimmen werden nicht gezählt, wenn die Präsidialstimme nur
„durch den Hinzutritt dieser Stimmen die Mehrheit für sich erlangen oder im Sinne des Art. 7
„Abs. 3 Satz 3 den Ausschlag geben würde. Das Gleiche gilt bei der Beschlussfassung über Ände-
„rungen der Verfassung.
„Elsass-Lothringen gilt im Sinn des Art. 6 Abs. 2 und der Art. 7 und 8 als Bundesstaat.
Durch das Gesetz vom 31. Mai 1911 sind demnach alle aus der Reichslandseigenschait
folgende Besonderheiten und Unterschiede der Stellung Elsass-Lothringens gegen die Bundes-
staaten ausgeglichen und verschwunden bis auf zwei: